Wunderwelt im Darm

Teamwork Wer glaubt, das Hirn sei Chef des Körpers, irrt: Im Darm bestimmen 100 Billionen Bakterien nicht nur, was wir essen – sondern auch, wie wir uns sozial verhalten. Ein Blick auf die neueste Forschung.

Vielfalt: Rund 1.000 Bakterienarten besiedeln den menschlichen Darm – mehr als 50 Prozent des Stuhls bestehen aus diesen Bakterien, etwa E. Coli. Bild: Steve Gschmeissner/Science Photo Library
Vielfalt: Rund 1.000 Bakterienarten besiedeln den menschlichen Darm – mehr als 50 Prozent des Stuhls bestehen aus diesen Bakterien, etwa E. Coli. Bild: Steve Gschmeissner/Science Photo Library

Als der Franzose Joseph Pujol Ende des 19. Jahrhunderts Abend um Abend auf die Bühne trat, um mit gezielten Lüftchen aus dem Hintern die „Marseillaise“ und andere Stücke zu intonieren, staunte das Publikum nicht schlecht. Reihenweise fielen die Damen vor Lachen über den Kunstfurzer in Ohnmacht, stets standen Krankenschwestern bereit. Selbst berühmte Persönlichkeiten wie der belgische König Leopold II. liebten die Show von „Le Pétomane“ – „dem Pupsomanen“. Hätten sie geahnt, welch Talente im Darm noch schlummern – es hätte ihnen erneut den Atem verschlagen.

Heute, 130 Jahre später, gehen Forscher davon aus, dass der Darm zu weit mehr dient als zur Belustigung und Verdauung. Immer mehr Wissenschaftler sind sicher: Charaktereigenschaften wie Schüchternheit, aber auch Krankheiten wie Depressionen und Multiple Sklerose können mit dem Bauch zusammenhängen. So ließen sich Leiden, die bisher mit Psychopharmaka, Kortison oder anderen Medikamenten therapiert werden, künftig mit aufbereiteten Darmbakterien behandeln. Eine hoffnungsvolle These für Mediziner und Patienten – und noch lange nicht vollends erforscht.

Die Sendung auf Arte

Die Wissenschaftsdoku „Unser Bauch – Die wunderbare Welt des Mikrobioms“ gibt es am Samstag 19.10. um 21:40 Uhr bei ARTE und bis 17.12. in der Mediathek.

Zoom: Die Darmzotten einer Maus (Foto) sind identisch aufgebaut wie bei Menschen. Die Schleimschicht (Mucosa, blau) schützt die Darmwand vor schädlichen Bakterien Bild: Sonnenburg lab/Stanford University
Zoom: Die Darmzotten einer Maus (Foto) sind identisch aufgebaut wie bei Menschen. Die Schleimschicht (Mucosa, blau) schützt die Darmwand vor schädlichen Bakterien Bild: Sonnenburg lab/Stanford University

In Deutschland erreichte das Thema Verdauung spätestens mit dem Bestseller „Darm mit Charme“ (2014) von Giulia Enders eine breite Masse. 2,4 Millionen Mal verkaufte sich das Buch allein im deutschsprachigen Raum, inzwischen ist es in 40 Sprachen übersetzt. Enders verschriftlichte das, was Kinder intuitiv tun und durch Erziehung verlernen (siehe Interview Seite 13): Sie ersetzte die Scham über menschliche Verdauung durch Faszination. Und wurde damit Teil einer Forschungswelle, die sich aktuell mit einem Feld auseinandersetzt, das nie zuvor so umfassend beachtet wurde: die Gesamtheit aller im Darm vorkommenden Mikroorganismen – das Mikrobiom.

Im Verdauungstrakt eines jeden Menschen steckt ein komplexes System, das sehr oft eigenständig arbeitet und im Gegensatz zu anderen Organen nicht immer den Befehlen des Gehirns folgt, sondern wiederum dem Gehirn Signale vermittelt, etwa über den Sättigungsgrad. Durch den Vagusnerv sind Darm und Hirn direkt miteinander verbunden. 90 Prozent der Informationen gehen vom Darm an das Hirn, und nur zehn Prozent sendet das Hirn an den Darm.

Das sogenannte enterische Nervensystem (ENS), das sich in den Wänden des rund sieben Meter langen Darms befindet, kommuniziert ebenso wie das Gehirn mit Neurotransmittern. Daher spricht man auch vom Bauchhirn. Mit seinen mehr als 100 Millionen Neuronen ist das ENS sogar größer als das Nervensystem im Rückenmark. „Das ENS ist zentral für alle Aspekte der Verdauung und Darmbeweglichkeit“, erklärt der irische Neurowissenschaftler John Cryan vom University College Cork. „Mit wachsenden Forschungsergebnissen erkennen wir aber immer deutlicher, welche wichtige Rolle das ENS auch für die Gesundheit des Gehirns spielt.“

Nicht nur Erkenntnisse über das ENS, sondern auch zahlreiche neue Studien über das Mikrobiom geben Aufschluss über die Wirkweise des Darms: Bis zu 1,5 Kilogramm wiegen die Bakterien bei jedem Menschen, das entspricht rund 100 Billionen Exemplaren. Etwa 1.000 Arten wurden bisher entschlüsselt. „Wie viele es insgesamt sind, ist allerdings schwer zu sagen, da sich der Stand der Forschung so schnell ändert“, sagt Mikrobiologin Erica Sonnenburg von der Universität Stanford, Kalifornien.

„Vergleichbar mit dem Ökosystem eines Regenwalds“

Die Wissenschaftlerin erforscht seit Jahren mit ihrem Mann Justin Sonnenburg das Mikrobiom des Menschen. „Die Gesamtheit aller Darmbakterien ist vergleichbar mit dem komplexen Ökosystem eines Regenwalds“, sagt die Forscherin. „So wie die verschiedenen Spezies in einem Ökosystem interagieren auch Mikroben in unserem Darm, wodurch das System stabil bleibt. Kommt es zu einer Störung, etwa durch einen Salmonellenbefall, ist das gesamte Ökosystem nicht mehr intakt.“

Für das Mikrobiom gilt: Je mehr unterschiedliche Bakterien im Darm vorkommen, die wichtige Moleküle produzieren, desto besser ist es um die Gesundheit bestellt. Fehlen gewisse Arten, löst das zum Beispiel ein Reizdarmsyndrom aus – darüber hinaus kann es aber auch zu Diabetes, Allergien, Multipler Sklerose oder einer Depression kommen. „Wir finden immer mehr Beweise, dass Hormone, die im Darm freigesetzt werden, unsere Hirnplastizität, einschließlich der Ausbildung neuer Neuronen, beeinflussen“, sagt John Cryan. Damit sind die Auswirkungen eines gestörten Mikrobioms umfassender als bislang angenommen.
Sowohl Krankheitserreger als auch Antibiotika schädigen das Mikrobiom. In den ersten Lebensjahren formt sich die individuelle Zusammensetzung. Bekommt ein Kind Antibiotika, kann sich das auf das Mikrobiom im Erwachsenenalter auswirken. Auch Kaiserschnittkinder haben laut Studien ein weniger abwechslungsreiches Mikrobiom. Der Grund: Sie kommen bei der Geburt nicht mit dem Vaginalschleim der Mutter in Berührung, der für ein gutes Mikrobiom-Starter-Kit sorgt. Mit „Vaginal Seeding“ soll dem entgegengewirkt werden – Neugeborene werden dabei direkt nach der Geburt mit dem Vaginalsekret der Mutter eingerieben.

Neben diesen Faktoren bestimmt zudem die Ernährung das (Un-)Gleichgewicht des Mikrobioms: Zu viel Zucker, Fett, Alkohol und Zusatzstoffe schädigen es. Aitak Farzi von der Universität Graz bewies in einer Studie, dass sich Mäuse, die mit Fast Food gefüttert wurden, eher zurückziehen als ihre mit Ballaststoffen genährten Artgenossen. Das Mikrobiom unterschied sich – und beeinflusste das Sozialverhalten. Ob Tierversuche aussagekräftig sind für Menschen, ist indes unklar: „An Mäusen untersuchen wir grundlegende Konzepte“, so Farzi. „Inwieweit die Ergebnisse auf Menschen übertragbar sind, muss von Fall zu Fall untersucht werden.“
Genau das tat Jeroen Raes von der Katholieke Universiteit Leuven: Er wertete die Daten von 1.054 Belgiern aus, die unter Depressionen litten. So stellte er einen Zusammenhang zwischen der Krankheit und einer verringerten Keimzahl von Bakterien der Gattungen Coprococcus und Dialister fest.

Je mehr Forschungsergebnisse veröffentlicht werden, desto deutlicher wird der Zusammenhang zwischen Psyche und Mikrobiom. Auch Neurowissenschaftler Cryan wies in einem Test mit Medizinstudenten nach, dass Kaiserschnittkinder auch im Alter ein erhöhtes Stressempfinden haben. Daneben untersucht er, wie sich Essverhalten auf das Gehirn auswirken kann. „Das Mikrobiom festigt sich in den ersten Lebensjahren. Im Erwachsenenalter ändert es sich nicht grundlegend, nur durch Krankheit etwa oder Medikamente. Ob eine Diät einen Wandel bringen kann, können wir bisher noch nicht sagen.“

„Die richtige Ernährung ist nicht kontrovers“

Was sollte man aber essen, damit das Mikrobiom von vornherein so divers wie möglich bleibt? Hinweise fand Justin Sonnenburg in Tansania: Der dortige Stamm der Hadza, einer aus rund 1.000 Menschen bestehenden Volksgruppe, zeichnet sich durch ein sehr abwechslungsreiches Mikrobiom aus. „Das liegt vor allem an der hohen Konzentration an Ballaststoffen in der Nahrung“, so Sonnenburg. Chronische Darmerkrankungen oder Diabetes gibt es dort praktisch nicht. Wie relevant Ballaststoffe sind, belegte auch Erica Sonnenburg: In einem Versuch zeigte sie nicht nur, dass Mäuse durch Ballaststoffe ein ausgeprägteres Mikrobiom besitzen. Sie bewies auch, dass sich ein gestörtes Mikrobiom vererbt – über vier Generationen. „Unser Experiment erklärt, wie sich Volkskrankheiten durch unsere westliche Lebensart ausbreiten. Das wird künftig zum globalen Problem.“

Was Ballaststoffe so wichtig macht, sind die enthaltenen Präbiotika: Die nicht verdaulichen Bestandteile, die etwa in Zwiebeln, Chicorée oder Artischocken vorkommen, dienen Bakterien der Gattungen Lactobacillus und Bifidobacterium als Nahrung. Damit fördern Präbiotika Wachstum und Aktivität der Bakterien im Darm – und so die Gesundheit. Daneben spielen Probiotika eine Rolle: Bakterien, die in Joghurt oder Kimchi enthalten sind. „Was gesunde Ernährung heißt, ist inzwischen bewiesen“, resümiert Erica Sonnenburg: „Obst und Gemüse, Nüsse, Samen, pflanzliche Fette, dafür wenige tierische Produkte, wenig Zucker und industrialisiertes Essen. Das ist keine Raketenwissenschaft, und es ist auch nicht kontrovers.“

Eine körpereigene Apotheke

Ist das Mikrobiom dauerhaft geschädigt, braucht es mitunter aber mehr als gesunde Ernährung – die Zuführung von Bakterien wird zum Beispiel in Form von Stuhltransplantationen durchgeführt. Dabei wird Patienten der Stuhl eines gesunden Menschen verabreicht – aufbereitet als Einlauf oder Kapseln. In den USA wurden Patienten mit dem gefährlichen Krankenhauskeim Clostridium difficile auf diese Weise erfolgreich behandelt: Oft tritt schon nach 24 Stunden Besserung ein.

Heilmethoden dieser Art eröffnen ein völlig neues Feld in der Medizin, in der nicht Symptome behandelt, sondern Bakterien verabreicht werden, damit das sich regenerierende Mikrobiom Krankheiten lindert. Eine körpereigene Apotheke also. „Eines Tages werden wir alle Stoffe, die Darmbakterien produzieren, identifizieren und herausfinden, wie sie unsere Gesundheit beeinflussen“, sagt Justin Sonnenburg. „So werden wir gezieltere Therapien entwickeln als eine Stuhltransplantation, und Bakterien werden eine Vielzahl von Krankheiten heilen können.“

Vor allem in Bezug auf die Psyche soll künftig die Gabe sogenannter Psychobiotika helfen: Jene Bakterien, deren Mangel Krankheiten wie Depressionen auslöst, könnten so als Medikament verabreicht werden. „Die Beweise mehren sich, dass die Gabe von Psychobiotika eine traditionelle Psychotherapie unterstützen könnte“, prognostiziert Cryan.

Seit mehr als einem Jahrzehnt forscht der Neurologe mit seinem irischen Kollegen Ted Dinan intensiv über die Bedeutung des Mikrobioms für das Hirn. Parallel dazu häufen sich weltweit Initiativen und Zusammenschlüsse wie das Human Microbiome Project in den USA, Hochschulen wie die Universität Wien gründen neue Fakultäten zur Erforschung des Mikrobioms. Gemeinsames Ziel: „Die Erkenntnisse, die wir vorwiegend aus Tierversuchen gewonnen haben, möchten wir jetzt auf den Menschen übertragen“, so Cryan. „Und mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir bei unserer Arbeit nicht enttäuscht werden.“