Anarchie im Kinderreich

Die sechs Episoden von „Anna“ erzählen in poetischen Bildern von einer verstörenden, postapokalyptischen Welt, in der Kinder gänzlich auf sich allein gestellt sind. Ein harter, archaischer Überlebenskampf – verursacht durch eine Virus-Pandemie.

Anna, Serie, Virus
Postapokalypse: Anna (­Giulia ­Dragotto, Foto) will ihren kleinen Bruder beschützen, obwohl sie selbst in Gefahr ist. Foto: Greta De Lazzaris_Sky Italia_Wildside_Kwaï_Fremantle_The New Life Company_ARTE France

Die zwölfjährige Anna (Giulia Dragotto) hat einen lebensbedrohlichen Feind: das Erwachsenwerden. Als Pubertierende ist sie noch sicher; alle Erwachsenen hat das weltweit grassierende Killervirus La Rossa bereits getötet – bis auf wenige Ausnahmen. Trotz vorübergehender Immunität gegen die Atemwegs­erkrankung kämpft Anna in den Wäldern und Städten Siziliens um ihr Leben und das ihres kleinen Bruders ­Astor (Alessandro ­Pecorella). Denn in der dort entstandenen Welt der Kinder und Jugendlichen herrschen Anarchie und ein barbarischer Verteilungskampf.

Besonders beklemmend: Die sechstteilige Serie des italienischen Autors und Regisseurs ­Niccolò ­Ammaniti, die ARTE im November zeigt, weist frappierende Parallelen zur Corona-­Pandemie auf. Dabei basiert die Story auf dem von Ammaniti verfassten gleichnamigen Roman, der bereits 2015 in Italien erschien. Während der Dreharbeiten auf Sizilien brach plötzlich die reale Seuche aus: „Erst nach und nach fing ich an zu begreifen, dass wir etwas erleben würden, das der Geschichte ähnelte, die wir gerade erzählen wollten“, so Ammaniti. Die Produktion musste schließlich drei Monate lang unterbrochen werden. Als sie wieder fortgesetzt werden konnte, war die Pandemie Realität geworden.

Anna

Science-Fiction-Serie

ab Donnerstag, 4.11. — 21.50 Uhr
bis 10.12. in der Mediathek

Anna, Serie, Virus, Pandemie
Die charismatische, jugendliche Banden­chefin ­Angelica (­Clara ­Tramontano, Foto) schart Kinder um sich. Foto: Greta De Lazzaris_Sky Italia_Wildside_Kwaï_Fremantle_The New Life Company_ARTE France

Perfide Machtspiele
Ähnlich wie William Golding in seinem Roman „Herr der Fliegen“ (1954) zerpflückt ­Ammaniti das Klischee der unschuldigen Kinder. Im Ernstfall, so seine Erzählung, gelte auch unter ihnen schnell das Recht des Stärkeren. Die grundsätzliche Frage, die sich hierbei stellt: Wie sieht eine Welt aus, in der bisherige Regeln und Vorstellungen von Gut und Böse nicht mehr gelten? In „Anna“ feiern die Kinder schrille Weltuntergangspartys und erfinden perfide Machtspiele, die zum Teil bis aufs Äußerste zugespitzt wirken. Nur in Ausnahmefällen sorgen sie füreinander und teilen die wenigen Lebensmittel, die sie in verlassenen Häusern oder Autos finden. In dem von Ammaniti geschaffenen Endzeit-Kosmos stehen sich Gegensätze wie Verletzlichkeit und Brutalität, Fürsorge und Sadismus, Hoffnung und Verlorenheit im Grunde gleichwertig gegenüber.

Als Inspiration für die Geschichte diente dem Autor unter anderem das Gemälde „Kinderspiele“ des niederländischen Renaissance-­Malers ­Pieter ­Bruegel der Ältere. Er erkenne darin Kinder, so ­Ammaniti, „die aussehen wie Erwachsene und sehr brutale Spiele spielen“. Aber auch Eindrücke von seinen Reisen nach Indien ließ der Italiener einfließen – etwa in Form von knallbunten Make-ups, mit denen sich die verwilderten Kinder schmücken.

Berühmt wurde der heute 55-Jährige im Jahr 2001 mit seinem dritten Roman „Ich habe keine Angst“. Darin entdeckt ein Junge inmitten eines sorglosen, heißen Sommers, dass sein geliebter Vater ein Kindesentführer ist. Danach vertraut der Bub keinem Erwachsenen mehr. Vor diesem ersten internationalen Bestseller galt ­Ammaniti als Pionier einer neuen Autorengeneration in Italien – der sogenannten Pulp-Bewegung  –, die Mitte der 1990er Jahre in ihren Texten Alltagsfragmente aus Pop, Horror, Fernsehen sowie humorvolle mit grotesk überzeichneten brutalen Motiven vermischte. Man bezeichnete sie als Schriftsteller des Exzesses, und während sich vor allem junge Leser begeistert zeigten, ätzten Literaturkritiker mitunter schockiert. Einige von ­Ammanitis Texten – etwa sein erster Roman „Die letzte Nacht auf den Inseln“ (1994) – wurden bereits damals verfilmt, in Anthologien abgedruckt oder in Videospielen verarbeitet. In den Jahren nach seinem Durchbruch verfasste ­Ammaniti weitere Erzählungen, preisgekrönte Romane sowie Filmskripts. Bis heute oszillieren seine Werke zwischen den Grenzen der Medien und Genres. Die Ästhetik der Pulp-Literaten, die Gegensätze auf manchmal schockierende Weise zusammenbringt, beeinflusst seine Arbeit immer noch.

Auch „Anna“ erschüttert und fasziniert mit unschuldig und gleichzeitig abgründig wirkenden Protagonistinnen und Protagonisten. ­Ammaniti bezeichnet die Geschichte als „modernes Märchen: Anna leidet, doch neue Hoffnung lässt sie immer wieder aufleben“.

Zur Person

Niccolò Ammaniti, Autor und Regisseur
Gewohnt, Grenzen zu überschreiten: Nach einer Zeit als Provokateur und Kritikerschreck gilt ­Niccolò Ammaniti heute als herausragende Figur der italienischen Literaturszene und ist auch als Drehbuchautor und Regisseur bekannt.