Zoff um die letzten Meiler

Kurz vor dem Aus für die Atomkraft in Deutschland regt sich Widerstand gegen die Abschaltung der Meiler. Machen Energiekrise und Klimaziele die Technik wieder salonfähig? 

Mitarbeiter des EWN-Entsorgungswerks in Rubenow prüft Strahlenbelastung
Ein Mitarbeiter des EWN-Entsorgungswerks in Rubenow prüft die Strahlenbelastung von Bauteilen aus einem ehemaligen Kernkraftwerk. Foto: Verena Brüning

Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) gerät beim Thema Versorgungssicherheit zunehmend unter Druck. Kernpunkt der Kritik: Der von ihm angestrebte Mix aus Wind-, Solar- und geothermischer Energie – angereichert mit grünem Wasserstoff, aber explizit ohne Atomkraft – reiche nicht aus, um Deutschlands Energiebedarf zu sichern. Widerstand gegen ­Habecks Pläne für die nachhaltige Zukunft des Landes im Sinne des Pariser Klimaschutzabkommens formiert sich in unterschiedlichen Lagern. So forderte CSU-Chef ­Markus ­Söder im Gespräch mit der Welt: „Wir müssen jetzt dringend neue Brennstäbe bestellen – zum Wohl unseres Landes.“ Bereits im Oktober vorigen Jahres ließ Fridays-for-Future-­Aktivistin ­Greta ­Thunberg in einer Talkshow durchblicken, dass sie es für falsch halte, die letzten Kernkraftwerke in Deutschland abzuschalten, wenn Kohle die einzige Alternative sei.

Die Atomkraft – Ende einer Ära?

Dokumentarfilm

Dienstag, 7.2. — 20.15 Uhr
bis 5.2. in der Mediathek

Dabei galt die Debatte hierzulande längst als beendet: Der 2011 nach der Katastrophe von Fukushima beschlossene Atomausstieg fußte auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens; Mitte April sollen in Deutschland die letzten Meiler vom Netz gehen. In Frankreich und vielen anderen EU-Ländern sowie in den USA und China wird die Kernkraft hingegen noch immer als Mittel gegen jedwede Energiekrise gesehen, wie Jobst ­Knigges Dokumentarfilm „Die Atomkraft – Ende einer Ära?“ zeigt.

Die Argumente für das Abschalten der Reaktoren sind bekannt: „In jeder Dekade seit den 1970er Jahren gab es schwere Havarien und eine Vielzahl kleiner Unfälle“, sagt Ben ­Wealer, einer der Autoren der Studie „Kernenergie und Klima“ von Scientists for Future, einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die vor den Folgen des Klimawandels warnen. „Atomenergie ist derart risikobehaftet, dass Kernkraftwerke gar nicht mehr versichert werden – für Schäden an Natur und Mensch muss die Gesellschaft aufkommen.“ Überdies fielen horrende volkswirtschaftliche Kosten für den Rückbau der Meiler und die Endlagerung radioaktiver Abfälle an. Aufgrund hoher Sicherheitsauflagen sei auch der Bau neuer Kernkraftwerke extrem teuer – was das Nukleargeschäft immer unattraktiver mache. Große Betreiberfirmen wie Westinghouse (USA) und Fram­atome (Frankreich) haben das in den vergangenen Jahren zu spüren bekommen: Beide Konzerne sind finanziell angeschlagen und erhalten staatliche Unterstützung.

Dennoch halten die Befürworter der Nuklearbranche, darunter Frankreichs Präsident ­Emmanuel ­Macron, an der defizitären Energiesparte fest. Rückendeckung bekommen sie von der Europäischen Union: Die hatte die Kernenergie 2022 in ihrem „Green Deal“ als klimaneutral eingestuft – trotz massiver Kritik von Umweltverbänden und anderen Atomkraftgegnern. Auch Robert Habeck reagierte unwirsch und nannte die EU-Taxonomie einen „Etikettenschwindel“. Dass es bei der Abschaltung im April bleiben werde, bekräftigte er unlängst und erteilte nuklearen Fantasien des Koalitionspartners FDP und der Opposition eine Absage.

 

Blick in das entkernte, im August 1994 stillgelegte Atomkraftwerk in Würgassen
Blick in das entkernte, im August 1994 stillgelegte Atomkraftwerk in Würgassen. Foto: Verena Brüning

AKADEMISCHER SCHLAGABTAUSCH

Neue Argumente pro Atomkraft liefert vor allem die durch den russischen Überfall auf die Ukraine verursachte Energiekrise: Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, sprach sich jüngst für eine Verlängerung der Laufzeiten um zwei bis drei Jahre aus. Und André Thess, Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Mitinitiator der Stuttgarter Erklärung, in der Wissenschaftler im Sommer 2022 für die Atomenergie warben, setzt sich sogar für den unbegrenzten Weiterbetrieb ein: „Eine fossilfreie Zukunft ist in Deutschland ohne Nuklearenergie nicht zu schaffen“, sagt Thess im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Für den Umbau zu einer klimaneutralen Wasserstoff-Wirtschaft sind große Mengen an Strom erforderlich – weit mehr, als unsere regenerativen Quellen hergeben.“ Zudem sei es absurd, aus Gründen der Versorgungssicherheit auf die Kohleverstromung zu setzen, die „mehr Todesopfer pro produzierter Terawattstunde“ gefordert habe als die Kernkraft und den Ausstoß von Treibhausgasen noch verschlimmere.

Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hält dagegen: „Studien, die Kernenergie als emissionsmindernd darstellen, sind pures Greenwashing“, so die Professorin für Energieökonomie. „Die von der Nuklearindustrie verursachten Umweltschäden, etwa beim Uranabbau und bei der CO₂-intensiven Herstellung der Brennstäbe, werden oft verschwiegen.“

 

Con­tainer mit kontaminierten Gegenständen in Rubenow
Con­tainer mit kontaminierten Gegenständen in Rubenow. Foto: Verena Brüning.

Die Umweltschäden der Nuklearindustrie werden oft verschwiegen