AUF DER SUCHE NACH DEM IDEALEN LAND

MÄRCHENHAFT Mit „Glücklich wie Lazzaro“ schenkt die Regisseurin Alice Rohrwacher dem italienischen Kino eine große Identifikationsfigur.

Getrennte Wege: Lazzaro (Adriano Tardiolo, r.) und Tancredi (Tommaso Ragno) werden vom Leben entzweit (Foto: TEMPESTA SRL/ZDF)

Zu einem realistischen Menschenbild gehört auch dieser Satz: Einer ist immer der Dumme. Wenn irgendwo eine unangenehme Aufgabe wartet oder jemand von eigenem Versagen ablenken will, wenn eine gute Flasche Wein die Runde macht und am Ende nichts mehr übrig ist, dann trifft es oft Menschen, die sich nicht so gut durchsetzen können. Sie sind sanft oder gutmütig, vielleicht auch ein wenig naiv, selten wirklich dumm, denn das ist schon Teil der Ausrede derer, die von den „Dummen“ profitieren. Im Film „Glücklich wie Lazzaro“ (2018) der italienischen Regisseurin Alice Rohrbacher ist der Held schon in den ersten fünf Minuten mehrfach dieser sogenannte Dumme: Während einer Feier ist er derjenige, der draußen Wache stehen muss, damit der Wolf in einer Mondnacht keine Tiere holt. Und zu trinken bekommt er natürlich auch nichts.
Wie immer. Lazzaro ist an seine Zurücksetzungen gewöhnt. Und doch heißt der Film über ihn nicht „Lazzaro semplice“ – „Einfältig wie Lazzaro“ oder gar „Lazzaro stupido“ – „Dumm wie Lazzaro“, sondern „Lazzaro felice“ – „Glücklich wie Lazzaro“. Wie kommt das Glück in diese Geschichte? Ein Glück, das mehr meint als nur Glück im Unglück. Ein Glück, das vielleicht alles aufwiegt, was die Menschen mit ihrer Wolfsnatur einander schon alles angetan haben. Alice Rohrwacher spricht von „Glücklich wie Lazzaro“ als „spirituellem Film“. Das Spirituelle ist in diesem bedeutendsten italienischen Film der vergangenen Jahre aber auch eine Kehrseite des Politischen. Denn es ist nicht weniger als die ganze neuere Geschichte des Landes zwischen alten Ordnungen und rasanter Moderne, die sich hier wie in einem Gleichnis noch einmal zeigt. Lazzaro gehört zu einer Gemeinschaft von Menschen, die auf einem Gut in Mittelitalien leben und arbeiten. Einfache Tabakbauern, die sich von einer Marchesa den Takt vorgeben lassen. Es sind feudale Verhältnisse, fast wie im 19. Jahrhundert. Aber es gibt ein paar Anzeichen, in welcher Zeit wir uns tatsächlich befinden: Lazzaro bekommt von Tancredi, dem Sohn der Marchesa, einen Walkman. Damit ist klar, dass dieser Film in etwa am Ende des analogen Zeitalters beginnt. Später gibt es einen Zeitsprung, der in die Gegenwart führt. Da sind die anfangs noch quasi Leibeigenen dann schon in einer großen Stadt und führen in einem Elendsquartier eine prekäre Randexistenz – nicht ganz obdachlos, aber auch alles andere als integriert.

Glücklich wie Lazzaro

Drama

Mittwoch, 11.11. • 22.00 Uhr
bis 17.11. in der Mediathek

Landarbeiter Lazzaro (Fotos: TEMPESTA SRL/ZDF)

Das Menschliche ist verloren gegangen
Rohrwacher hat schon mit „Land der Wunder“ (2014) bewiesen, dass sie dem italienischen Neorealismus, dieser berühmten Filmbewegung der Nachkriegszeit, die die kleinen Leute in den Vordergrund stellt, ganz neue Facetten verleihen kann. Für die Filmemacherin ist die triviale Welt des Fernsehens und der Popkultur immer nur ein Schritt von den ältesten Geschichten über die Welt und über Italien entfernt. In „Land der Wunder“ spielte sie virtuos mit den Gründungsmythen.
In „Glücklich wie Lazzaro“ nimmt sie aus der Perspektive einer Außenseiterbande eine Gegenwart in den Blick, der das Menschliche verloren gegangen zu sein scheint. Lazzaros Blick auf die Welt läuft natürlich auf eine Kritik der gegenwärtigen italienischen Verhältnisse hinaus, aber Rohrwacher versucht dabei, mit ihrem Film selbst so etwas wie Unschuld zu bewahren: Sie hat auf 16-Millimeter-Material gedreht und lässt ihn ein wenig aussehen wie einen Film aus einer anderen Zeit des Kinos, wie einen Irrläufer aus vergangenen Zeiten.
Das Verhältnis von Gegenwart und Vorgeschichte ist vielschichtig auch deswegen, weil es ein ideales Italien – wie auch ein ideales Deutschland – nie gab, weil aber die Suche danach nie aufhört: Der Regisseur Pier Paolo Pasolini entwarf in seinem Film „Decameron“ (1971) eine Gegengesellschaft, aus der auch Lazzaro stammen könnte; zugleich kann man in ihm aber auch einen Verwandten der Sizilianer erkennen, die in dem Klassiker „Rocco und seine Brüder“ (1960) von Luchino Visconti im Norden ankommen, um Anschluss an das Wirtschaftswunder zu bekommen.
In vielerlei Hinsicht ist Lazzaro eine Projektionsfigur, er lässt mit sich machen, er lässt sich ausbeuten, und doch steckt in dieser Passivität ein Widerstandsgeist, den Alice Rohrwacher auf wunderbar subtile Weise immer wieder freilegt. Italien mag immer mal wieder ein Land in der Krise sein, ein zerrissener Staat zwischen Nord und Süd, Reichen und wachsendem Prekariat, in dem die Eliten das Volk gern für dumm verkaufen würden. Das Kino setzt dagegen den großen Horizont der Humanität und der glückliche Lazzaro wird zu einer paradoxen Identifikationsfigur: ein Held, vor dem die Wölfe eigentlich davonlaufen müssten.