Flucht und Segen

Migration ist ein Dauerreizthema. Vergessen wird dabei leicht, dass einst Millionen Deutsche auf der Suche nach einem besseren Leben auswanderten. Manche ihrer Probleme wirken sehr gegenwärtig.

Eine zeitgenössische Illustration zeigt deutsche Siedler in Nordamerika.
Eine zeitgenössische Illustration zeigt deutsche Siedler in Nordamerika. Religiöse Verfolgung, Armut und Unfreiheit trieben vom 17. Jahrhundert an mehr und mehr Menschen aus deutschen Gebieten zur Auswanderung. Heute gelten 41 Millionen Menschen in den USA als Deutschamerikaner, zwölf Prozent der Bevölkerung, die größte einzelne Herkunftsgruppe überhaupt. Foto: Picture Alliance/akg images

Mit deutschen Einwanderern ging Benjamin Franklin (1706–1790) hart ins Gericht: „Diejenigen, die hierherkommen, gehören im Allgemeinen zu den Unwissendsten und Dümmsten ihrer Nation“, wetterte der Staatsmann und spätere Gründervater der Vereinigten Staaten 1753 in einem Brief. Und weiter: „Da sie keine Freiheit gewohnt sind, wissen sie nicht, wie man sie maßvoll nutzt.“ Schon vorher hatte er in einem Aufsatz vor der „Germanisierung“ der damaligen britischen Kolonie Pennsylvania gewarnt: „Warum sollte man die pfälzischen Tölpel dulden, die in unsere Siedlungen strömen und durch ihr Zusammenrotten ihre Sprache und Sitten etablieren?“ ­Franklins Widerwille gegen die „Fremden“ in der vom Quäker ­William Penn gegründeten Kolonie fußte auf zwei Überzeugungen: Es kommen zu viele. Und sie passen sicht nicht an. Mit Blick auf heutige Debatten klingen die Vorbehalte verblüffend aktuell.

Auswandern! Deutsche Schicksale aus drei Jahrhunderten

Konzert

Samstag, 8.11. — 20.15 Uhr
bis 6.11.26 auf arte.tv  

Skizze von Benjamin Franklin, Staatsmann und spätere Gründervater der Vereinigten Staaten.
Benjamin ­Franklin (1706–1790), Staatsmann und spätere Gründervater der Vereinigten Staaten, warnte 1753 vor der „Germanisierung“ Pennsylvanias. Foto: Foto: ZU_09/DigitalVision Vectors/Getty Images

Historiker William O’Reilly (siehe Interview weiter unten), einer der Experten in der ARTE-Dokureihe „Auswandern! Deutsche Schicksale aus drei Jahrhunderten“, sieht beim Thema Migration noch weitere Parallelen zwischen früheren Epochen und der Gegenwart. Zum Beispiel das gut organisierte Schlepperwesen – ein lukratives Geschäftsmodell, das schon früh zu einer regelrechten Auswanderungsindustrie führte. Weil die Kolonien gerade anfänglich auf permanenten Zuzug angewiesen waren, wurden alle Register gezogen.

Sogenannte Neuländer warben in deutschsprachigen Gebieten mit vermeintlichen Auswanderer-­Erfolgs­geschichten über ihren in kürzester Zeit erworbenen Wohlstand. „Was die meisten Menschen im Rheinland oder anderswo nicht wussten, war, dass diese Leute ein Kopfgeld für jeden Migranten erhielten, den sie nach Rotterdam brachten“, so der Professor an der University of Cambridge im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin. Wer die Atlantik-­Passage von dort nicht selbst zahlen konnte, wurde zum Objekt eines beinahe sklavenartigen Handels mit Arbeitskräften, der im 17. Jahrhundert einsetzte. Der Ausdruck „Seelenverkäufer“ stammt aus dieser Zeit.

Auch hätten nicht alle Auswanderer jener Epoche die Wahrheit über ihre Motive gesagt, erläutert ­O’Reilly: „In der heutigen aufgeladenen AfD- und Brexit-­Sprache würde man sagen, dass diese Menschen nur vorgegeben haben, Asyl zu benötigen, und in Wirklichkeit Wirtschaftsflüchtlinge waren.“ Ironie der Geschichte ist, dass mit US-Präsident ­Donald Trump einer der entschiedensten Verfechter rigider Einwanderungspolitik selbst pfälzische Vorfahren hatte, wenngleich diese erst im 19. Jahrhundert in die Vereinigten Staaten kamen.

Eine Skizze zeigt deutsche Auswanderer, die sich auf ein Schiff begeben.
Millionen Menschen wanderten im 19. Jahrhundert aus Deutschland aus. Foto: DeAgostini/Getty Images

Pfälzer, englisch Palatines, war im 17. und 18. Jahrhundert eine Art Sammelbegriff für Deutschstämmige in Nordamerika. Tatsächlich begann die Auswanderung aus deutschsprachigen Gebieten vornehmlich im Südwesten – neben der Pfalz unter anderem auch in Baden, dem Elsass und der Schweiz. Zum einen bot sich von dort aus der Rhein als Verkehrsader zu den Seehäfen an, während Reisen über Land noch beschwerlicher waren. Zum anderen versammelte die Region protestantische Minderheiten wie die Mennoniten und andere Religionsgemeinschaften. Kriege, Flucht vor Wehrdienst und drückender Besteuerung, fehlende landwirtschaftliche Flächen und Nahrungsmangel nach besonders harten Wintern ließen im 18. Jahrhundert den Strom der Auswanderer anschwellen. Schließlich befruchtete sich die Bewegung selbst, hielten doch Ausgewanderte Kontakt zur Heimat. Und die war – eine deutsche Nation gab es nicht – klar begrenzt auf die Herkunftsregion.

Politische Zurückhaltung

Von „Deutschen“ sprachen und schrieben in den britischen Kolonien und später in den Vereinigten Staaten andere, ­Benjamin ­Franklin etwa. Entsprechende Selbstbezeichnungen in schriftlichen Zeugnissen von Auswanderern: Fehlanzeige. Dass Deutsch beinahe Amtssprache in den USA geworden wäre, betrachten Wissenschaftler eher als hartnäckigen Mythos. Tatsächlich hielten sich deutsche Einwanderer – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil in den Vereinigten Staaten – bei politischen Themen lange Zeit auffällig zurück. Am deutlichsten wird diese Tradition der Abkehr und Abschottung der eigenen Gemeinschaft bis heute bei den Amischen im Pennsylvania Dutch Country, Nachfahren von Einwanderern aus Südwestdeutschland sowie der Deutschschweiz und im Ursprung den Mennoniten verbunden. Alles Nicht­amische galt und gilt ihnen als „englisch“.

Im 18. Jahrhundert landeten schätzungsweise 130.000 deutschsprachige Auswanderer in der Neuen Welt. Nur, denn im gleichen Zeitraum zog fast eine Dreiviertelmillion ostwärts – nach Russland oder in den Balkan. Erst im 19. Jahrhundert kehrten sich die Verhältnisse auf eindrucksvolle Weise um: Von 1816, dem Jahr nach Ende der Napoleonischen Kriege, bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 überquerten 5,5 Millionen Deutsche den Atlantik Richtung USA. 90 Prozent der Emigranten kannten in jener Zeit nur ein Zielland. Sozialen Missständen und gescheiterten Demokratieversuchen in der alten Heimat standen die Aussicht auf gut bezahlte Arbeit, politische Freiheit und nicht zuletzt die Hoffnung auf fruchtbares Land oder gar ein paar Goldnuggets beim Treck nach Westen gegenüber

Alles Deutsche verschwunden

Deutsche Einwanderer bauten nicht nur Eisenbahnen quer durchs Land, sie hinterließen auch anderweitig Spuren. Große US-Firmen wie die Brauereien AnheuserBusch, Miller und Pabst, die Pharmariesen Pfizer und Merck oder Klavierhersteller Steinway haben deutsche Gründer. Der Erste Weltkrieg radierte vieles Deutsche in den USA geradezu aus. Bei einer Volkszählung 1920 waren die Millionen deutscher Einwanderer in den USA als selbstidentifizierte Gruppe „alle verschwunden“, sagt Forscher William O’Reilly: „Sie anglisierten ihre Namen. Sie hörten auf, Deutsch zu sprechen, und fast der gesamte Deutschunterricht wurde eingestellt, ebenso wie die meisten deutschsprachigen Gottesdienste.“ Die Prohibition in den 1920er Jahren habe zur Schließung deutscher Brauereien in den Vereinigten Staaten geführt. Deutsche Traditionen und Bräuche seien in einer Zeit antideutscher Stimmung gleichsam in den Untergrund gegangen.

Schwarz-Weiß-Foto von deutschen Siedlern in der USA vor einer Brauerei.
Einwanderer aus Deutschland hielten anfangs an Kultur und häufig an der Sprache fest. Große US-Firmen wie die Brauereien ­Anheuser-Busch, Miller und Pabst, die Pharmariesen ­Pfizer und Merck oder Klavierhersteller Steinway haben deutsche Gründer. Foto: Keystone-France/Gamma-Keystone/Getty Images

Heute gelten 41 Millionen Menschen in den USA als Deutschamerikaner, zwölf Prozent der Bevölkerung, die größte einzelne Herkunftsgruppe überhaupt. Sichtbar sind sie mit Folklore, dem Weihnachtsbaum oder Lehnwörtern wie „kindergarten“. Und natürlich mit dem Deutschen-Spross ­Donald Trump. Angesichts von dessen politischem Gebaren stellt sich die Frage: Was würde wohl ­Benjamin Franklin dazu sagen?

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Interview von Oliver de Weert

»Migranten als billige Fracht«

Das Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 markiert den Beginn der Auswanderbewegung im deutschsprachigen Raum. Anhänger kleiner Religionsgemeinschaften gerieten unter Druck, verstärkt durch politische und wirtschaftliche Unsicherheit. Aus Sicht des Historikers ­William ­O’Reilly von der University of Cambridge wichtige Faktoren, die allein aber nicht ausreichten, um die Menschen zum Weggang zu veranlassen.

ARTE Magazin Herr O’Reilly, was setzte die Auswanderung im deutschen Sprachraum im 17. Jahrhundert in Gang?

William O’Reilly Während viele Länder Kolonien hatten, waren die Deutschen gewissermaßen freie Akteure. Durch die Reformation und die Verbreitung des Buchdrucks hatten sie einen hohen Grad an Alphabetisierung, das machte sie für Informationskampagnen empfänglich. Sie wurden die am stärksten von Anwerbern aus anderen Nationen umworbene Gruppe und zu einem der migrationsfreudigsten Völker im frühneuzeitlichen Europa.

ARTE Magazin Wie überzeugte man die Menschen damals?

William O’Reilly Viele Schriften jener Zeit waren religiöser Natur. Von staatlicher Seite hieß es darin, die Auswanderung sei gegen Gottes Willen, man solle zu Hause bleiben. Die Verfolgung der Hugenotten in Frankreich machte die Idee der Refuge, der Zuflucht, und des Flüchtlings, Refugié, geläufig. Die Vermarktung dieser neuen Art von Migration mit dem Recht auf religiösen Schutz erleichterte es vielen Deutschen, sich – nicht immer ehrlich – als verfolgte Menschen zu sehen, die ihr Land verlassen mussten.

ARTE Magazin Warum war, bevor es Dampfschiffe gab, gerade der Seeweg nach Westen lebensgefährlich für Auswanderer?

William O’ReillyIm 18. Jahrhundert war die Sterblichkeitsrate deutscher Migranten bei der Atlantiküberquerung zweitweise höher als die afrikanischer Sklaven. Für manche Reeder waren deutsche Migranten nicht mehr als billige Fracht. Deshalb pferchten sie in Rotterdam mehr Deutsche auf Schiffe, von denen einige früher Sklaven transportiert hatten. Die Kapitäne nahmen viele kostenlos an Bord, im Gegenzug verpflichteten sich die Auswanderer zu mehrjähriger Arbeit im Rahmen des sogenannten Redemptioner-Systems. Diese Verträge wurden nach der Ankunft in Amerika weiterverkauft.

ARTE Magazin Nordamerika war nicht die einzige Option für die Auswanderer …

William O’ReillyNein, auf jeden Deutschen, der in dieser Zeit über den Atlantik zog, kamen sechs, die nach Osteuropa gingen – nach Russland oder in den nördlichen Balkan. Das war auch viel besser, man bekam mehr Land und Freiheiten und war in größeren deutschsprachigen Gemeinschaften geschützt.

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