»Run auf die Diagnose«

Immer mehr Menschen erhalten die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung. Wie ist der aktuelle Stand der Forschung? Ein Gespräch mit der Expertin Isabel Dziobek.

Person, verschwommen, auf buntem Hintergrund
Vielen Personen mit Autismus fällt es schwer, die Absichten anderer Menschen zu lesen und eigene Gefühle zu kommunizieren. Foto: Dynamic Wang/Unsplash

Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Während einige Menschen hochfunktional sind, benötigen andere intensive Unterstützung. Bislang wurde zwischen Frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischem Autismus unterschieden. Da die Abgrenzung zunehmend schwerer fällt und auch mildere Formen diagnostiziert werden, wird heute der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) für das gesamte Spektrum autistischer Störungen verwendet. Isabel Dziobek widmet sich der Erforschung und Versorgung von Autismus. Für ein Gespräch mit dem ARTE Magazin hat sie sich aus Berlin zugeschaltet.

ARTE Magazin  Frau Dziobek, wie äußert sich Autismus?

Isabel Dziobek Das ist trotz vorgegebener Diagnosekriterien sehr individuell. Vielen Personen mit Autismus fällt es schwer, die Absichten anderer Menschen zu lesen und eigene Gefühle zu kommunizieren, also die Feinabstimmung in der sozialen Interaktion. In der Therapie werden Mittel erlernt, das zu kompensieren, zum Beispiel, indem man sein Gegenüber bittet, Gefühle zu verbalisieren. Die Sprachentwicklung kann bei Autisten verzögert sein, manche zeigen eine repetitive Motorik. Menschen mit Autismus leben oft stark nach Routinen – werden diese nicht eingehalten, kann das Angst oder Frustration auslösen. Auch sensorische oder Sonderinteressen können stark ausgeprägt sein. Es gibt die unterschiedlichsten Konstellationen von Symptomen, oft führen diese dann auch zu Depressionen und Angststörungen.

ARTE Magazin  Können Sie Beispiele für auffällige Interessen benennen?

Isabel DziobekIch kenne eine Person, die sich ungewöhnlich intensiv mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Großstädten beschäftigt, wie dem U-Bahn-System in Rio de Janeiro. Eine andere weiß alles über das Heidelberger Schloss und füllt damit ganze Bücher. Ein Bekannter ist wahnsinnig interessiert an Sukkulenten, und ich kannte ein Kind, das fixiert war auf Metalltrommeln in Waschmaschinen. Es gibt auch Sonderbegabungen – das betrifft aber nur äußerst wenige wie Kim Peek, das Vorbild für den Film „Rain Man“, der Primzahlen ohne Weiteres im Kopf rechnen konnte, oder ­Stephen ­Wiltshire, der die Skyline von New York nur aus der Erinnerung zeichnet.

ARTE Magazin Wie kommt es dazu?

Isabel Dziobek Es gibt verschiedene Theorien, etwa dass bei Menschen mit Autismus vor allem die rechte Hemisphäre oder Gedächtnisstrukturen wie der Hippocampus besonders effektiv arbeiten oder dass die Gehirngebiete besonders stark miteinander verbunden sind. Es ist aber schwierig, das sauber zu untersuchen, da Autisten selten die gleichen Sonderbegabungen haben. Insgesamt geht man davon aus, dass Autismus zu großen Anteilen biologische Ursachen hat. Unter den psychischen Diagnosen hat Autismus die größte Erblichkeit – rund 80 bis 90 Prozent sind genetisch bedingt.

Autismus – Das rätselhafte Spektrum

Wissenschaftsdoku

Samstag, 5.4. —
22.40 Uhr
bis 29.6. in der
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ARTE Magazin Auf welche Aspekte wird in der Autismus-­Forschung aktuell besonders eingegangen?

Isabel Dziobek Heute gehen wir davon aus, dass es zahlreiche Autismus-Formen gibt. Viel diskutiert wird über pränatale oder frühe Umweltfaktoren, die zur Entstehung von Autismus beitragen. Man weiß, wenn Schwangere Infektionen haben oder bestimmte Medikamente einnehmen, wenn Eltern im fortgeschrittenen Alter oder Kinder Frühgeburten sind, erhöht das die Prävalenz, also die Auftretenswahrscheinlichkeit. Wir wissen, dass Autismus durch eine Gen-Umwelt-­Interaktion bedingt wird. Interessant ist, dass Menschen mit Autismus sich eine weniger biologische oder genetische Forschung wünschen. Ihre Anliegen sind eher: Wie können Lebensbedingungen, Inklusion und die schlechte diagnostische Versorgungslage verbessert werden, und was wirkt gegen Stigma? Gott sei Dank wurden viele Mythen bereits widerlegt, etwa dass Autismus durch Impfungen ausgelöst wird oder Betroffene keine Empathie haben.

ARTE Magazin Mit welchen Herausforderungen werden Menschen mit Autismus konfrontiert? 

Isabel Dziobekk In Deutschland haben wir eine sehr schlechte Versorgungslage für erwachsene Autisten. Zum Beispiel warten sie bis zu anderthalb Jahre auf einen Diagnoseplatz – das ist eine Katastrophe. Wir öffnen unsere Warteliste in der Hochschulambulanz alle drei Monate. Beim letzten Mal haben wir an nur einem Tag 870 Anmeldungen erhalten, können pro Quartal aber nur 30 Menschen diagnostizieren. Auch therapeutisch gibt es kaum Angebote. Wir bieten als eine der sehr wenigen Stellen eine spezialisierte Psychotherapie an. In einer Studie haben wir über 500 Psychotherapeuten in Deutschland gefragt, wie gut sie sich mit der ASS-Behandlung auskennen. Das Ergebnis ist sehr deutlich: Die Therapeuten schätzen sich selbst als inkompetent ein, Autismus zu behandeln – die Einschätzung ist die niedrigste im Vergleich zu 15 anderen Diagnosen. Obwohl Autismus – nicht zuletzt durch viele Berichte in den Medien – recht gut in der Bevölkerung bekannt ist, fehlt es an Wissen für die Behandlung. Wir sollten uns aber nicht nur fragen, wie Autisten durch Therapie anpassungsfähiger werden, sondern auch: Wie können wir Verhältnisse so ändern, dass Autisten besser inkludiert werden? Viele sind zum Beispiel erwerbslos, obwohl sie eine gute Ausbildung haben. Das liegt auch an unzureichenden Anpassungen der Arbeitsstellen, etwa im Hinblick auf Geräuscharmut und klare Kommunikation.

ARTE Magazin Ist die Diagnose heute positiver konnotiert?

Isabel Dziobek Ja, deutlich positiver als früher. Es gibt einen gewissen Run auf die Diagnose. Die Prävalenz ist auf ein bis zwei Prozent gestiegen, vor 20 Jahren lag sie noch bei 0,01 Prozent. Der Run betrifft allerdings vor allem den hochfunktionalen Bereich. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht die Menschen aus den Augen verlieren, die Autismus mit einer Intelligenzminderung haben.