An der Pariser Oper müssen sich Tänzerinnen und Tänzer mit 42 Jahren von der Bühne verabschieden, wie der Dokumentarfilm „Abschied von der Oper“ veranschaulicht, den ARTE ab September online zeigt. Auch in Deutschland gibt es oft Altersgrenzen. Die Berliner Tanzkompanie Dance On bietet über 40-Jährigen die Chance, weiterzutanzen, und setzt damit ein künstlerisches Statement. Ein Interview mit Ensemble-Leiter Ty Boomershine kurz vor seinem nächsten Auftritt.
ARTE Magazin Herr Boomershine, wie erleben Sie die Altersgrenze im Tanz?
Ty Boomershine Die Benachteiligung, die uns mit Anfang 40 für gewöhnlich erwartet, ist uns bewusst. Man muss also früh an die Zukunft denken. Es gibt auch Ausnahmen: Ich persönlich bin immer wieder in Performances reingerutscht. So kam ich nach Berlin und tanze einfach weiter. Von den Mitgliedern in meinem Ensemble weiß ich aber, was sie durchgemacht haben. Dabei kenne ich heute dank der Fortschritte in der Wissenschaft, im Training und in der Physiotherapie kaum einen Tänzer, der mit 40 das Gefühl hat, kaputt zu sein.
ARTE Magazin Sie tanzen mit Mitte 50 noch auf der Bühne. Wie hat sich Ihr Verständnis von Tanz mit dem Älterwerden verändert?
Ty Boomershine Manchmal realisiere ich: Mein Gott, ich mache das immer noch! Ich weiß jetzt mehr zu schätzen, was ich tue, als in meinen 30ern. Ich würdige den kreativen Prozess der Zusammenarbeit mit einem Choreografen. Früher empfand ich es einfach als einen Job. Ich habe heute viel mehr zu geben, mehr Erfahrung und Wissen. Dabei bin ich nicht so naiv, zu glauben, der Körper würde nicht abbauen. Die körperlichen Anforderungen hängen aber immer vom Stück ab: Im klassischen Ballett spielt Bühnenpräsenz neben virtuosem Spitzentanz eine große Rolle. Zeitgenössischer oder neoklassischer Tanz erfordern nicht immer mehrfache Drehungen und unglaublich hohe Sprünge. Werke von Pina Bausch etwa sind nicht nur körperlich, sondern auch sehr theatralisch. Dann gibt es Choreografen wie Merce Cunningham, die technisch und körperlich sehr herausfordernd sind. Da kenne ich aber auch 25-Jährige, die das nicht schaffen – bei Leistungsfähigkeit geht es nicht immer um das Alter. Manche fühlen sich mit 50 besser als mit 30.
ARTE Magazin Warum müssen viele Tanzprofis dann überhaupt so früh aufhören?
Ty Boomershine Es ist ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Nicht nur an der Pariser Oper, auch etwa am Nederlands Dans Theater, American Ballet Theatre oder Cullberg Ballet in Stockholm. Bei manchen Ensembles liegt die Altersgrenze schon bei 38. Ich habe noch niemanden sagen hören: „Die Zahl basiert auf der Forschung zu Verletzungsprävention und Muskelabbau.“ Oder: „Spitzentanz im klassischen Ballett ist ab einem gewissen Alter schädlich.“ Was ich höre, ist: „Das war schon immer so.“ Es ist in der Tat billiger, einen 18-Jährigen einzustellen als einen 40-Jährigen. Ich zitiere oft Madeline Ritter, die Leiterin von Bureau Ritter, für das ich arbeite: „Das Alter ist die einzige Minderheit, der wir alle einmal angehören werden.“ Besonders im Tanz möchte nur niemand über diesen Umstand sprechen.
ARTE Magazin Öffnet sich die Ballettwelt heute nicht generell in Richtung Diversität?
Ty Boomershine Ich sehe mehr Personen mit unterschiedlicher Herkunft auf der Bühne. Im traditionellen Ballett gibt es die Vorstellung, dass sich die Tanzgruppe, das Corps de Ballet, stark ähneln sollte, weil man Einheitlichkeit in Stücken wie „Schwanensee“ oder „Dornröschen“ haben möchte: die gleiche Haarfarbe, den gleichen Hautton, ähnliche Körperform. Ich bin hoffnungsvoll, dass sich das ändert. Gelegentlich sehe ich eine Choreografie, in der auch ältere Tanzende mitwirken. Meist sind es Rollen, in denen es speziell ums Alter geht. Aber was ist mit den Stücken, in denen Alter gar kein Thema ist? Warum heißt es nicht: Ich mag diese Tänzerin, die zufällig 60 Jahre alt ist, sie bewegt sich schön, und ich möchte sie in meinem Stück haben? Gleichzeitig gilt es aber, den jungen Tänzern und Tänzerinnen Platz zu machen, die ihre Karriere noch vor sich haben.
ARTE Magazin Was machen diejenigen, die mit dem Tanzen aufhören, in der Regel im Anschluss?
Ty Boomershine Das kann alles sein: Ich habe Freunde, die Anwälte, Richterinnen oder Yoga- und Tanzlehrer sind, ein Freund ist Führungskraft in der Luftfahrt. Es gibt Arbeitgeber, die konkret ehemalige Tanzprofis suchen – wegen der Disziplin, die sie auszeichnet. Oft wird nur über die Freude und Freiheit am Tanzen berichtet, statt über die zwei Stunden Physiotherapie um 7 Uhr morgens, das harte Training oder das kontrollierte Essverhalten.
ARTE Magazin Dance On ermöglicht älteren Tanzenden, ihren Beruf weiter auszuüben. Wie ist die Resonanz?
Ty Boomershine Viele Besucher eines Theaters oder einer Oper sind in der Regel über 40 und freuen sich, wenn ihr Alter auch auf der Bühne repräsentiert wird. Sonst sehen sie meist Darstellende, die im Alter ihrer Kinder sind. Die Erfahrung, dass diese Arbeit noch in ihrem Alter ausgeübt wird, verändert ihre Sicht auf das eigene Leben.
Zur Person:
Ty Boomershine, Künstlerischer Leiter Dance On Ensemble
1968 in Ohio geboren, zog es ihn nach New York, Amsterdam und Berlin. Er tanzte u. a. für Merce Cunningham. Seit 2019 leitet er das Berliner Tanzensemble.
