Briefkolumne

Wo sind unsere Kneipen hin? Wo bleibt der Wirt, der auf den Tisch haut, wenn jemand über die Stränge schlägt? Vermisst: Thekengespräche.

Illustration: Elisabeth Moch

 

Liebe Colombe,

ich erinnere mich, dass mein Großvater gern mit dem Rad von Kneipe zu Kneipe fuhr. Alkohol rührte er nicht an – in die Kneipen ging er vor allem, um das Neueste zu erfahren.Sie werden oft mit stupiden Männerritualen assoziiert, mit dem Zechen, dem Kartenspiel, sogar mit Prügeleien. Das mag stimmen – und doch zeichnet es ein unvollständiges Bild. Denn dort fand nicht zuletzt ein basisdemokratischer Prozess statt, der, wenn er auch mitunter rüde verlief, meist zu einem burgfriedenartigen Konsens führte. Nun beobachten wir in Deutschland seit etwa 20 Jahren, dass diese soziale Institution, vor allem im ländlichen Raum, im Verschwinden begriffen ist. In meiner Heimatstadt hat es einmal 70 Gaststätten gegeben, heute gibt es kaum mehr zehn – darunter eine einzige klassische Kneipe, in der ein paar Unverdrossene sitzen und in ihr Bier schweigen. Die Menschen bleiben lieber zu Hause, in ihren zu Festungen ausgebauten Eigenheimen. Sie verlassen sie nur zum Einkauf im anonymen Riesensupermarkt, laden sich die Kofferräume voll und fahren wieder heim. Dort setzen sie sich vor den Computer und begeben sich in einen Resonanzraum, in dem ihre Meinung beständig widerhallt. Diese Blase ist an die Stelle der Kneipe getreten – und selbst krudeste Verschwörungstheorien bleiben weitgehend unwidersprochen. Niemand sagt: „Das ist doch Quatsch, was du da erzählst, ­Helmut.“ Kein resoluter Kneipenwirt haut auf den Tisch, wenn ein Gast mit intellektuellem Müll die Stimmung verpestet. Ich betrachte das mit großer Sorge und würde die letzten Kneipen gern als systemrelevantes Kulturerbe unter Schutz stellen lassen – vielleicht selbst eine eröffnen, als Akt politisch-sozialer Fürsorge. Wie ist die Situation in Frankreich, ­Colombe? Gehen die Leute noch in Bars? Und könntest Du Dir vorstellen, Kneipenwirtin zu sein?

Prost und Gruß!

Dein Dirk

 

Cher Dirk,

ich liebe Cafés – das Stimmengewirr, das „Bonjour“, das durch den Raum klingt, das Klirren von Löffeln auf Untertassen und das laute Whouuuu der Kaffeemaschine, das die Stimmen der Stammgäste übertönt, die an der Theke lehnen, um zu diskutieren oder gar zu streiten, und dabei ihre Gläser heben. Diese Gespräche werden als „café du commerce“ bezeichnet, ein französischer Ausdruck für den Austausch von Klatsch und Neuigkeiten. Ich bin allerdings kein Theken-Typ: Als unbändige Raucherin lasse ich mich im Sommer wie im Winter bevorzugt auf der Terrasse des Bistros nieder, um einen Espresso zu trinken und meine Zigarette zu rauchen, während ich Le ­Parisien und ­Libération lese. In Frankreich sind Cafés – das Äquivalent zur deutschen Kneipe – ebenfalls vom Aussterben bedroht: Von 400.000 in der Nachkriegszeit sind nur noch etwa 35.000 übrig. Ein Verein hat Deine Idee vorweggenommen und beim Kulturministerium ein Dossier zur Verteidigung dieser „Lebenskunst rund um die Theke“ eingereicht, um Cafés und Bars in die Liste des immateriellen Kultur­erbes aufzunehmen. Bisher ohne Erfolg. In den vergangenen zwei Jahren haben eine Handvoll Nachrichtensender, darunter ­BFMTV, ­France ­Info und der rechtsgerichtete Sender ­CNews, ihre Einschaltquoten stark erhöht, sodass man meinen könnte, sie hätten die Thekengespräche abgelöst, wenn auch mit mehr Hintergrundinformationen. Die sogenannten Experten und Expertinnen sitzen – wie an der Theke – auf Hockern. Hier kann das Adrenalin der harten Fakten und die mediale Verherrlichung von Egos einen Rausch auslösen, bis hin zur Verwechslung von Analyse und Meinung. Der unaufhörliche Livestream führt auch beim Publikum zu einer Suchtgefahr. Nutzen wir also die schönen Tage, um aus unserer Blase herauszukommen und wieder den Weg in die Straßencafés zu finden, um uns mit unseren Tischnachbarn auszutauschen. Und sei es nur, um gemeinsam Blödsinn zu erzählen – anstatt ihn abgeschottet für sich zu denken.

Gesellige Grüße, 

Colombe