»Es fühlte sich an wie Exorzismus«

Barrie Kosky zählt zu den wichtigsten Opernmachern der Gegenwart. Ein Gespräch über Oper in australischer Hitze, Wagners Verlockung und Eskapismus im Theatersaal.

Zehn Jahre lang war der Australier Intendant der Komischen Oper Berlin, machte sie extrem erfolgreich.
Foto: Julian Anderson/eyevine/laif

Große Pausen scheinen im Alltag eines Opernregisseurs nicht vorgesehen, jedenfalls nicht, wenn man es mit ­Barrie ­Kosky zu tun hat. Gerade hat er in Berlin mit der paillettenreichen Inszenierung von „La Cage aux Folles“ Premiere gefeiert, zwei Tage später beginnen schon die Proben in Wien. Dort, an der Staatsoper, inszeniert ­Kosky „Le Nozze di Figaro“, Figaros Hochzeit: ­Mozarts rasanten Reigen um ein Dienerpaar, dessen Hochzeit durch allerlei Irrungen und Intrigen zu platzen droht. ARTE überträgt die Aufführung live. Und während viele den Namen ­Kosky mit großem Gestus verbinden, ist er beim Thema Stil überraschend flexibel: Er selbst versteht sich als Minimalist.

Mozarts Nozze di Figaro live aus Wien: Barrie Kosky, Philippe Jordan, Rufus Didwiszus

Oper

Freitag, 17.3. — 21.50 Uhr

ARTE Magazin Herr Kosky, „Die Hochzeit des Figaro“ haben Sie bereits zweimal inszeniert, in den 1990er Jahren in Australien und später an der Komischen Oper Berlin. Was reizt Sie daran, es noch einmal zu tun? 

Barrie Kosky Sie ist eine meiner Lieblingsopern, ein Meisterwerk vom ersten bis zum letzten Takt. Zuletzt habe ich den „Figaro“ 2013 realisiert, leider auf Deutsch, auch wenn das bei ­Mozart weniger schmerzhaft ist als bei einer italienischen oder französischen Oper. Ich war vielleicht zu 50 Prozent zufrieden. Ich erinnere mich gut, dass ich nach der Premiere dachte: Hoffentlich kann ich das eines Tages erneut inszenieren. Die Stücke von ­Mozart und Da Ponte kann man sowieso ein paar Mal im Leben machen, so gut sind sie.

ARTE Magazin Im „Figaro“ steigt ein mächtiger Graf einer Kammerzofe nach. Hat sich angesichts aktueller Debatten wie MeToo verändert, wie Sie die Oper wahrnehmen? 

Barrie Kosky Ja und nein. Das ist ein Aspekt unter mehreren: Es geht um Liebe, Macht, Generationenkonflikte. Natürlich ist sein Verhalten unerträglich, aber man hat ein Problem, wenn man den Grafen völlig unsympathisch macht, er nur Machtmensch ist. Wir bewegen uns in einem Kunstraum. Ich finde interessant, dass er am Ende als Lachnummer dasteht, denn seine angebetete ­Susanna ist viel klüger als er und manipuliert ihn. Er ist ein Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs.

ARTE Magazin „Mozart verlasse ich mit guter Laune, ­Wagner oft mit schlechter“ – sehen Sie das noch so? 

Barrie KoskyNun, Mozarts Melodien und Harmonien sind wie Sauerstoff. Unglaublich, was man fühlt nach ­Mozart. ­Wagners Musik dagegen ist wie eine Droge. Sie geht unter die Haut und löst Unbehagen aus, was ja auch seine Absicht war. Es liegt zu viel Zauber in dieser Musik. Denken Sie an „­Parsifal“, mit dessen Inhalt ich riesige Probleme habe: der Männerkult, das Blut, die Frauenfeindlichkeit. Dennoch hat ­Wagner dazu eine außerordentliche Musik komponiert, Musik einer anderen Dimension. Man versinkt in ihr. Es gibt fast keinen anderen Komponisten, der derart lockt: „Komm mit mir“. Fast schamanisch. Nach drei Stunden braucht man eine Pause.

ARTE Magazin Als erster jüdischer Regisseur haben Sie 2017 in Bayreuth die „Meistersinger“ inszeniert. Haben Sie mit ­Wagners Geistern gerungen?

Barrie Kosky Ich war absolut zwiegespalten. Eine Woche vor der Probe dachte ich: Ich kann nicht nach Bayreuth. Es ist ungesund, weil eine so starke Vermischung zwischen ­Wagners Biografie, seiner Musik und der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts besteht.

ARTE Magazin Dennoch sind Sie gefahren. 

Barrie Kosky Und es war eine fantastische Erfahrung. Erstens hatte ich eine wunderbare Sängerbesetzung, mit ­Michael ­Volle als Hans Sachs und ­Johannes ­Martin ­Kränzle als Beckmesser und Klaus Florian Vogt als ­Walther. Und zweitens war die Inszenierung ein riesiger Erfolg. Ich habe gemerkt, dass ich ­Wagner überleben kann. Es fühlte sich an wie ein Exorzismus: Ich bin befreit. Ich habe keine Angst vor diesem Mann. Er ist nur ein Komponist wie ­Janáček, ­Puccini und ­Mozart, existiert bloß in den Noten der Partitur. Punkt.

 

Der Graf Almaviva ist hinter Susanna her, der Verlobten seines Kammerdieners Figaro. Abenteuerliche Intrigenspiele folgen, ehe es gelingt, den Grafen bloßzustellen. Mozarts Standeskomödie mit dem Libretto von Da Ponte, an der Wiener Staatsoper inszeniert von Barrie Kosky und dirigiert von Philippe Jordan. Am Freitag, 17.3. um 21.50 Uhr auf ARTE. Foto: Jorg Greuel/Getty Images

ARTE Magazin Sie können die Kunst und den Menschen, der sie gemacht hat, voneinander trennen? 

Barrie Kosky Das ist unmöglich. Man kann antisemitische Musik schreiben, und Wagner hat das getan. Seine Figuren sind mariniert in tausend Jahren Antisemitismus. ­Leider wird das immer eine Wunde auf seinem Körper sein. In den „Meistersingern“ habe ich versucht, ein paar dieser Themen auf die Bühne zu bringen. Ich werde aber nicht meine gesamte Karriere darauf verwenden.

ARTE Magazin Ihre Großmutter hat sie in Australien in die Oper eingeführt: große Abendgarderobe, Damen in Pelzmänteln. Ein akribisch durchgeplantes Ritual? 

Barrie Kosky Das war im Melbourne der 1970er Jahre. Viele meiner europäischen Kollegen staunen darüber – als wäre Australien eine Wüste! Meine Großmutter stammte aus Budapest und zog 1935 dorthin, um meinen russischen Großvater zu heiraten. Ich war ihr Projekt. Ihre Familie hatte früher eine Loge in der Budapester Staatsoper, als Mädchen ist sie jeden Monat mit ihrem Vater nach Wien gereist, um die Oper zu besuchen. Sie sammelte fantastische Autogrammbücher. Es gibt Briefe von ­Puccini und ­Bartók an meine Großmutter. Alle Künstler, die sie in Budapest gehört hat, fanden sich in diesem Buch: ­Bruno ­Walter, ­Richard ­Strauss, ­Enrico ­Caruso.

ARTE Magazin Haben Sie dieses Album noch? 

Barrie Kosky Sie hat es mir zum 18. Geburtstag geschenkt. Bis dahin hatte ich mehr als 200 Opern gesehen. Als erste „Madame Butterfly“, da war ich sieben. Unser Ritual sah so aus, dass sie mir Monate vor der Aufführung die Schallplatte kaufte, ich musste das Libretto lesen, die Geschichte verinnerlichen. Nach der Vorstellung haben wir die Oper besprochen. Meine Großmutter hatte eine starke Meinung, sie war richtig konservativ.

ARTE Magazin Ist sie je nach Budapest zurückgekehrt? 

Barrie Kosky Einmal, in den 1970ern. Sie stand vor dem alten Haus ihrer Familie, ist in Tränen ausgebrochen und noch am gleichen Abend abgereist.

ARTE Magazin Der Großteil Ihrer Familie starb im Holocaust, über Vergangenheit sprach man nur, wenn es um Oper ging. War Ihr Hobby mit Traurigkeit behaftet? 

Barrie Kosky Für meine Großmutter schon, doch für mich bedeutete Oper pure Freude und Aufregung. Ich hatte keine Vorstellung, dass es sich um eine alte Musikform handelte. Ich war besessen. Ich habe diese Stoffe gefressen. Sie waren nicht exotisch, eher wie Wasser und Brot.

ARTE Magazin Sind die Ideen von Musik und Essen für Sie verknüpft? Die„Dreigroschenoper“ haben Sie als eine „Bouillabaisse der Formen“ bezeichnet.

Barrie Kosky Das liegt daran, dass ich Essen liebe! Natürlich ist beides sinnlich: Oper geht erst ins Herz und dann in den Kopf. Beim Essen ist es ähnlich, man steckt sich etwas in den Mund und hat eine unmittelbare Reaktion. Während der Proben zur „Dreigroschenoper“ wollte ich eine Idee anschaulich machen, indem ich sagte: Die Melodien von Kurt Weill müssen wie Honig klingen, aber die Worte von ­Bertolt Brecht müssen knacken wie Nüsse. Allein ist der Honig uninteressant, die Nüsse auch.

 

Szenen aus „West Side Story“ an der Komischen Oper Berlin.
Zwischen den Extremen: ­Barrie ­Kosky gilt als Experte für extra­vagante Inszenierungen, kann aber auch mal sachtere Töne. Szenen aus „West Side Story“ an der Komischen Oper Berlin. Foto: Christian Marquardt/Getty Images

ARTE Magazin Sie sind bekannt für einen knalligen Stil, unterscheiden Sie zwischen Ernst und Unterhaltung?

Barrie Kosky Der Stil meiner Operetten oder Musicals mag extrem sein, und sie waren besonders erfolgreich. Aber der Großteil meiner Arbeit ist nicht so. Im Herzen bin ich Minimalist! Es ist ein Missverständnis, wenn die Leute sagen: Kosky liebt es bunt. Nur, wenn das Stück es verlangt. In einer Revue der Weimarer Republik zeige ich großen Tanz und Pailletten, klar. In einer Oper wie „Don ­Giovanni“ gibt es karge Felsen. Ich arbeite aus gutem Grund mit fünf verschiedenen Bühnenbildnern. Ich pendele gerne zwischen den Extremen.

ARTE Magazin Ist Oper auch Wirklichkeitsflucht? 

Barrie Kosky Eskapismus in eine Fantasiewelt ist in meinen Augen nichts Schlechtes. Gelegentlich muss man einfach drei Stunden in einem Theater sitzen und pure Freude empfinden. Und den Krieg in der Ukraine, die Energiekrise für einen Moment vergessen. Danach fühlt man sich besser. Nicht jeder Abend muss im Publikum eine existenzielle Krise hervorrufen.

ARTE Magazin Manche sagen: Gute Kunst muss wehtun.

Barrie Kosky Das ist eine sehr deutsche Idee – dass jede Erfahrung Schmerz hervorbringen muss. Quatsch! Wenn ich in einer „Woyzeck“-Vorstellung sitze, muss ich Schmerz fühlen, nicht aber bei „La Cage aux Folles“.

ARTE Magazin Zuletzt wurde viel über Führungskultur an Theatern gesprochen. Ist an den Klischees von brüllenden Regisseuren und divenhaften Sängern etwas dran?

Barrie Kosky Das sehe ich nicht. Ich arbeite mit sensationellen Sängerinnen und Sängern, da ist niemand Diva. Natürlich haben sich manche Intendanten und Regisseure in der Vergangenheit schlecht aufgeführt. Und selbstverständlich darf niemand erniedrigt oder angeschrien werden. In so einem Klima möchte ich nicht arbeiten. Ich bin Teamplayer. Wenn jemand eine bessere Idee hat als ich: gerne. Aber an der Oper herrscht keine Demokratie. Jemand muss Entscheidungen treffen, und wer ein Haus leitet, wird hochbezahlt und muss die Verantwortung übernehmen. Es gibt immer schwarze Schafe, doch meiner Einschätzung nach läuft es in den meisten Proberäumen extrem gut. Ich sehe keine Krise der Kunstwelt.

Zur Person
Barrie Kosky, Opernregisseur

Zehn Jahre lang war der Australier Intendant der Komischen Oper Berlin, machte sie extrem erfolgreich. Er inszenierte die „Meistersinger“ bei den Bayreuther Festspielen, außerdem an diversen internationalen Häusern. Im März erscheint sein Buch „Und Vorhang auf, hallo!“ bei Suhrkamp.

Nicht jeder Abend muss eine existenzielle Krise hervorrufen

Barrie Kosky, Opernregisseur