Briefkolumne

„Glück im Unglück – Unglück im Glück“: Hat diese daoistische Parabel Bezug zum Streit um die Corona-Impfung? Auf jeden Fall, finden unsere Brieffreunde.

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Foto: Elisabeth Moch

Liebe Colombe,

ich musste dieser Tage an die daoistische Parabel „Glück im Unglück – Unglück im Glück“ denken, die ich vor langer Zeit gelesen habe. Darin entläuft einem armen Bauern ein Pferd (Unglück), kehrt aber bald mit anderen Pferden im Gefolge heim (Glück). Beim Zureiten dieser Pferde bricht der Bauer sich ein Bein (erneutes Unglück), kann deshalb nicht an einem verheerenden Gefecht teilnehmen und entgeht so dem sicheren Tod (erneutes Glück). Nun, warum musste ich wohl daran denken? Weil ich das Gefühl habe, dass in meinem – und nicht nur meinem – Leben Glück und Unglück einander gerade so stark bedingen wie in dieser Parabel: Eine Pandemie ist über uns hereingebrochen (Unglück), aber die Wissenschaft hat sehr zügig einen Impfstoff entwickelt (Glück). Leider möchten sich ihn nicht so viele Menschen verabreichen lassen, dass die Lage in den Griff zu bekommen wäre (erneutes Unglück). Hier endet die Kausalkette – die moderne Wirklichkeit ist nun mal nicht so einfach strukturiert wie eine alte Parabel. Und du merkst: Sie endet nicht mit dem erneuten Glück. Nun sind viele Deutsche der Meinung, man könne es durch eine Impfpflicht erzwingen, nicht ganz so viele, aber doch nicht wenige, sind entschieden dagegen. Beide Gruppen fühlen sich von der jeweils anderen ihrer Freiheit beraubt, der kollektiven einerseits und der individuellen andererseits. Was mich anbelangt: Ich bin drei Mal geimpft und dankbar für den Schutz, der mir dadurch gewährt wurde. An der erwähnten Parabel aber hat mich seit je her irritiert, dass ein Beinbruch der Schlüssel zum Glück sein soll. Das tut doch schrecklich weh, denke ich. Ähnlich weh wie die Vorstellung, dass der Staat Zwang in einem so sensiblen Bereich wie der körperlichen Unversehrtheit ausübt. Muss man beides, Beinbruch wie Impfpflicht, womöglich in Kauf nehmen, um Leben zu retten?

Daoistische Grüße,

Dein Dirk

Karambolage

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Cher Dirk,

Deine Geschichte über Glück oder Unglück und den verhinderten Tod erinnert mich an die französische Redewendung „c’est un mal pour un bien“, übersetzt: „ein Schaden für einen Nutzen“, die auch andersherum funktioniert. So kannst du eines schönen Morgens beschließen, zu Fuß ins Büro zu gehen, weil das gut für die Gesundheit ist, und – zack! – wirst du von einem Bus angefahren und hast ein zerschmettertes Gesicht. „Pech gehabt“, wie man sagt, in der Hoffnung, sich von jeglicher Verantwortung zu befreien, obwohl man nicht an der roten Ampel gewartet hat. Und hier pralle ich an Deiner „schmerzhaften“ Idee der „körperlichen Unversehrtheit“ ab, die durch die Impfkampagne angeblich gefährdet wird. Es ist nun mal die Pflicht des Staates, das Leben seiner Bürger zu schützen – und unsere Pflicht, das Protokoll für uns selbst und aus Solidarität mit anderen einzuhalten. Auch deshalb bekundete Präsident ­Emmanuel ­Macron unlängst, er wolle die Ungeimpften mächtig nerven. In Frankreich wurden kostenlose Tests und Impfungen eingeführt, um die Ausbreitung des Virus zu bekämpfen. Aber es gibt immer noch Millionen Impfgegner, Anhänger von Verschwörungstheorien oder Egoisten (mehrheitlich am rechten Rand der Rechten oder am äußersten Rand der Linken), darunter Hunderttausende Betrüger, die es vorziehen, bis zu 1.000 Euro für einen gefälschten Gesundheitspass zu bezahlen. Das alles unter dem Vorwand, ihre Freiheit zu bewahren, während ihnen die Freiheit anderer egal ist – was darauf hinausläuft, dass man sein eigenes sogenanntes Glück bevorzugt und das Risiko eingeht, andere ins Unglück zu stürzen. In diesen Zeiten wiederhole ich wie ein Mantra ein Zitat, das mich als Teenager beim Lesen des Klassikers „Les Nourritures terrestres“ (1897) von ­André ­Gide verzauberte. Es besagt, dass man das Leben und seine Freuden nicht planen kann, aber aus jeder Neuheit (mit Delta und Omikron sind wir gut bedient!) das Beste machen sollte. Für mich ein Schlüssel zum Glück!

Liebe Grüße,

Colombe