»DAS LEBEN IST DIALEKTISCH«

AMBIVALENT Der Film „Das Verhör in der Nacht“ handelt vom Dilemma einer Gesellschaft, die offen für Kritik, aber sicher vor Gewalt sein möchte. In der Hauptrolle: Charly Hübner. Ein Gespräch über die Freiheit und ihre Grenzen.

FOTO: Adrian Höllger

Die Sonne scheint auf den Hamburger Hafen, ein leichter Fischgeruch liegt in der Luft. Charly Hübner sitzt im Inneren eines Cafés neben einer Steckdose: Sein Handy braucht Strom. „Können wir hier sitzen bleiben?“, fragt er. Bekannt dürfte der 48-jährige Schauspieler den meisten durch seine Rolle im Rostocker Polizeiruf als launischer Kriminalhauptkommissar an der Seite von Anneke Kim Sarnau sein. Erste größere Bekanntheit erlangte er 2006 in „Das Leben der Anderen“ als Stasi-Oberfeldwebel an der Seite von Ulrich Mühe. Im Film „Das Verhör in der Nacht“ von Matti Geschonneck, den ARTE im November ausstrahlt, spielt Hübner einen Beamten des Staatsschutzes: Er verhört eine Philosophieprofessorin, die im Verdacht steht, noch am selben Abend einen Anschlag zu planen. Weil er sie seit langer Zeit überwacht, scheint er alles über sie zu wissen. Geschonnecks Film basiert auf dem Theaterstück „Heilig Abend“ von Daniel Kehlmann, der auch das Drehbuch schrieb.

Das Verhör in der Nacht

Thriller

Freitag, 27.11. • 20.15 Uhr
bis 26.12. in der Mediathek

Spannung: Eine Professorin wird eines Anschlags verdächtigt und an Heiligabend von einem Polizisten in ihrem Hotelzimmer verhört. Fesselndes Wortduell nach einem Drehbuch von Daniel Kehlmann.

ARTE MAGAZIN Herr Hübner, apropos Überwachung: Ist Ihr Handy immer und überall eingeschaltet?
Charly Hübner Nein, nachts mache ich es aus. Am Set und während der Proben auch. Die Menschen, die mich kennen, wissen, dass ich manchmal nicht erreichbar bin. Ich mache mir aber keine Illusion darüber, dass alle Telefone, auch meins, von den Behörden wahrgenommen werden. Das ist ja schon lange so und überrascht mich nicht.
ARTE MAGAZIN Sie haben also kein Problem mit der Vorstellung, überwacht zu werden?
Charly Hübner Was das angeht, bin ich schon ewig ein Pessimist. Geheimdienste gibt es schon immer. Nach wie vor empören sich alle über die Stasi in der DDR. Den Verfassungsschutz gibt es auch seit Langem. Und den BND, den Mossad, die CIA und wie sie alle heißen. Wo es Menschen gibt, gibt es auch Leute, die andere Leute bespitzeln. Es scheint in unserer Natur zu liegen, dass wir heimlich etwas über andere erfahren wollen. Durch die sozialen Medien hat das Ganze noch gigantischere Ausmaße angenommen. Was soll ich tun? Ich nehme es also hin, ganz fatalistisch, denn verkriechen kann ich mir nicht leisten.
ARTE MAGAZIN Im Film „Das Verhör in der Nacht“ geht es um das Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit. Auf der einen Seite steht die Frage, wie weit der Staat gehen darf, um Menschen beispielsweise vor einem Terroranschlag zu schützen. Auf der anderen Seite argumentiert die Professorin, unser Gesellschaftssystem sei so gewalttätig, dass jeder Widerstand dagegen gerechtfertigt sei. Wer hat recht?
Charly Hübner Daniel Kehlmann zieht die Geschichte so auf, dass es weder Gewinner noch Verlierer gibt. Der Polizist, den ich spiele, ist Staatsschützer. So etwas wie am Breitscheidplatz 2016 in Berlin will er nicht noch mal erleben, verständlicherweise. Die Philosophin, die er verhört, prangert unser Gesellschaftssystem an: die weltweitungerechte Verteilung der Güter, die Ausbeutung unter anderem Afrikas durch den Westen, Menschenrechtsverletzungen. Auch ihre Argumente sind absolut nachvollziehbar.
ARTE MAGAZIN Im Moment fühlen sich viele Menschen durch die Corona-Maßnahmen in ihren Freiheiten eingeschränkt. Können Sie das nachvollziehen?
Charly Hübner Die Frage, die sich mir stellt: Will ich das Virus in mich reinlassen oder nicht? Ich will es nicht. Man muss es ernst nehmen, ohne durchzudrehen. Ich finde Hysterie nur im Theater und im Film spannend. Als Schauspieler bin ich gerne hysterisch und laut und böse und grimmig. Deshalb mache ich den Beruf. Aber außerhalb der Arbeit halte ich den Ball flach. Natürlich ist es etwas seltsam, wenn einem gesagt wird, wie oft man sich wie lange täglich die Hände waschen soll. Das sind nun mal Empfehlungen gerade, und weil mancher nicht mitmachen mag, werden aus Empfehlungen Anordnungen – und die Exekutive hat wieder manches mehr zu richten. Jüngst las ich, dass bei Nebel Kapitän und Steuermann auf Sicht fahren. COVID ist ein grausiger Nebel in unserer Zeit.
ARTE MAGAZIN Was bedeutet Freiheit für Sie?
Charly Hübner Freiheit ist für mich, wenn ich meinen kompletten Impulsen folgen darf. Im Rahmen der groß bestehenden Verabredung, versteht sich. Es geht auch um Selbstverwirklichung. Ich glaube, Menschen fühlen sich dann unfrei, wenn sie das Gefühl haben, sich nicht ausleben zu dürfen. Und in einer demokratischen Gesellschaft gibt es die unterschiedlichsten Sehnsüchte und deshalb auch Widersprüche.
ARTE MAGAZIN Daniel Kehlmanns Geschichte liefert keinerlei Antworten auf all diese Widersprüche. Will er den Zuschauern beibringen, Ambivalenzen auszuhalten, quasi als Trainingfürs echte Leben?
Charly Hübner Es gibt nun mal nicht auf alles die eine Antwort oder die eine Lösung. Das Leben ist dialektisch. Es gibt immer mindestens eine These und eine Antithese. Und genau das versucht der Film zu erzählen. Die offenen Fragen fliegen 90 Minuten lang durch den Raum.
ARTE MAGAZIN Tatsächlich spielt die Handlung fast ausschließlich in einem Hotelzimmer, wo sich die beiden Protagonisten unterhalten. Nicht gerade ein klassischer Action-Thriller – wo liegt für Sie der Unterhaltungswert des Films?
Charly Hübner Keine Action, keine Autofahrten, keine Sonnenuntergänge! Spannung ist dennoch von Anfang an zu spüren: eine Frau alleine, ein erleuchtetes Zimmer. Der restliche Ort wirkt leer. Es ist Heiligabend. Wo ist ihr Mann? Wo sind die Kinder? Alles wirkt ein bisschen unheimlich, nicht greifbar. Dann kommt da plötzlich ein Typ um die Ecke und signalisiert, dass er sehr viel über sie weiß. Das ist feinste Thrillerspannung. Und das in einem Kammerspiel – ein Spiel in einem kleinen Raum, das im Laufe des Abends immer beklemmender wird. Zwei fremde Menschen sitzen sich gegenüber. Eine Macht schränkt die Freiheit einer Person ein, weil die Macht sich bedroht fühlt. Es geht um das große Ganze. Und um die Frage: Gibt es eine Bombe oder nicht? Was wird passieren? Der Film ist, sage ich mal, wie ein sehr trockener Champagner.
ARTE MAGAZIN Wie weit darf Systemkritik gehen?
Charly Hübner Ich denke, unser offenes System, diese liberale Gesellschaft, braucht Kritiker. Menschen, die hinterfragen. Niemand sollte einfach auf Autopilot schalten. Das ist die größte Gefahr. Eine Bombe ist aber natürlich nicht die Lösung. Dafür gibt es Demonstrationen, Theater, Kino, Literatur, Musik, Kunst oder Fernsehen, wo diese Themen diskutiert werden können, informell oder kreativ gestaltet. Dass so ein System Institutionen hat, die es schützen, ist aber auch sehr wichtig.
ARTE MAGAZIN Inwiefern?
Charly Hübner Weil eine offene Gesellschaft – gerade weil sie offen ist – am verletzlichsten ist. Kriminelle oder terroristische Vereinigungen können sich leicht bilden. Das haben wir in den letzten Jahren wieder gemerkt. Da tun Aufmerksamkeit und ein waches Auge not. Doch der Schritt zum Missbrauch ist leider auch kein großer.
ARTE MAGAZIN 2009 kritisierte Daniel Kehlmann das deutsche Regietheater; Werktreue ist dem Autor sehr wichtig. Hatten Sie beim Spielen die Freiheit, von seinem Drehbuch abzuweichen, oder mussten Sie sich strikt an die Dialoge halten?
Charly Hübner Was die Worte angeht, konnten wir nicht frei improvisieren. Was aber nicht an seinen Vorgaben lag. Daniel Kehlmann ist ein hochintelligenter Schreiber. Seine Sprache ist so durchdacht, dass wir bei jedem Versuch, die Dialoge mundgerechter zu machen, scheiterten. Die Zeitformen, die Syntax, die Wortkonstruktionen, das ist richtig gebaut. Ein Handwerk. Wir mussten voll und ganz in seine Denke hinein. Und jedes Wort kennen – ich glaube, ich habe seit meinem Studium nicht mehr so beinhart Text gebimst!
ARTE MAGAZIN Wie stehen Sie selbst als Theaterschauspieler dazu: Werktreue oder freie Interpretation?
Charly Hübner Ich komme aus der Welt der Nicht-Werktreue. Auch als Zuschauer. Ich bin großer Fan von Frank Castorf und Christoph Marthaler. Wenn diese Regisseure zu der großen, klugen Welt eines Autors etwas Neues, Intelligentes hinzufügen, dann ist das sehr erfreulich. Natürlich gibt es auch sehr viele Gegenbeispiele im Regietheater. Es kommt auf die Texte und Dramaturginnen und Dramaturgen an. Weshalb es auch hier nicht nur eine Antwort gibt.
ARTE MAGAZIN In diesem Fall ist das zum Glück kein Dilemma.
Charly Hübner Nein, überhaupt nicht. Es ist eine Spielerei in der Freiheit.

Ich finde Hysterie nur im Theater und im Film spannend

Charly Hübner, Schauspieler