Eine Phase des Umbruchs

Erst Bürgermeister, dann Präsident: Recep Erdogan sichert seine Macht seit 30 Jahren durch ein System an Abhängigkeiten. Bringt die anstehende Wahl ihn nun zu Fall?

Abbildung von Erdogan aus der Graphic Novel „Erdoğan“ (Correctiv Verlag)
Der ehemalige Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, lebt und arbeitet im Exil in Deutschland. Zusammen mit dem Zeichner ­Mohamed Anwar veröffentlichte er 2021 die Graphic Novel „Erdoğan“ (Correctiv Verlag), aus der auch diese Abbildung stammt. Foto: Mohamed Anwar / Correctiv Verlag

Als Recep Tayyip Erdogan vor 30 Jahren für den Bürgermeisterposten von Istanbul kandidierte, hatte er bloß einen Ring in den Händen. Ein frisch verlobtes junges Mädchen hatte ihren Verlobungsring in einen Umschlag gesteckt und ihn mit den Worten „Möge dieser Ring der Auftaktsegen für Ihren Wahlkampf sein“ geschickt. ­Erdogan zeigte den Ring bei seinen Anhängern herum und fragte: „Können die Milliarden der Holdinggesellschaften diese Liebe aufwiegen?“

Sie konnten. Heute, 30 Jahre später, kämpfen nahezu alle milliardenschweren Holdinginhaber der Türkei in ­Erdogans Lager dafür, dass das von ihm errichtete Renditesystem nicht stürzt. Menschen wie die junge Frau, die ­Erdogan ihren wertvollen Ring als Anfangskapital spendeten, leben heute bei einer Inflation von 70 Prozent an der Armutsgrenze. Das 30. Jahr des „­Erdoganismus“ wurde zu einer bedeutenden Phase des Umbruchs in der 100-jährigen Geschichte der türkischen Republik. Das ist nicht allein dem Wettbewerb zwischen ­Erdogan und seinen Gegnern geschuldet, sondern auch der jahrhundertealten Auseinandersetzung zwischen Ost und West, Moderne und Tradition, Autokratie und Demokratie, Stadt und Land, Scharia und Laizismus.

Bei jenen, die ihren Verlobungsring ­Erdogan schenkten, damit er Bürgermeister von Istanbul werde, handelte es sich vor allem um ausgegrenzte Arme, die an den Rändern der Metropole lebten. Die meisten waren Niedriglöhner mit geringer Bildung. Ihre Häuser waren illegal errichtet. Angesichts der schwierigen urbanen Bedingungen klammerten sie sich aneinander oder an die Religion. Die damalige Premierministerin ­Tansu ­Çiller wohnte hingegen in einer Luxusvilla am Bosporus. Wenige Tage vor der Wahl trat sie vor die Presse: „Mir liegt eine Akte vor, die belegt, dass ­Erdogans Haus illegal erbaut wurde.“ ­Erdogan aber verwandelte die Anschuldigung in ein Kompliment: „60 Prozent der Istanbuler leben in illegal errichteten Wohnhäusern. Ich bin einer von ihnen.“

Gegen die Premierministerin in der Villa gaben die Menschen in den illegalen Bauten ihre Stimme damals „einem von ihnen“. Aufgrund der Gespaltenheit der Opposition herrschte ­Erdogan ein Vierteljahrhundert über die Stadt. Die ohne Genehmigung errichteten Bauten ließ er unverzüglich legalisieren. Tragischerweise forderte das jüngste Erdbeben auch wegen der landesweit verteilten nachträglichen Genehmigungen so viele Opfer. ­Erdogan sparte auch sonst nicht an sozialen Hilfen – statt den Menschen bessere Arbeit, Bildung, Gesundheit und Unterkünfte zu bieten. Auf diese Weise band er das Einkommen von Millionen daran, dass er an der Macht blieb. Jüngsten Umfragen zufolge beziehen 34 Prozent der Bevölkerung staatliche Leistungen. Diese Zahl entspricht der Rumpfwählerschaft der AKP.

Die Massen machte Erdogan mit seiner sogenannten Spendenökonomie von seiner Regierung abhängig, er selbst zog samt seiner acht Flugzeuge und 268 Autos in den Präsidentenpalast mit seinen 1.150 Räumen. 2013 wurde er bei einer Abhöraktion der Polizei dabei erwischt, wie er seinen Sohn anwies, für den Fall einer Razzia die Devisen im Haus „auf null“ zu setzen. Die Öffentlichkeit erfuhr wenig davon, denn Milliardäre, die ­Erdogan unterstützten, hatten die Leitmedien aufgekauft und Berichte zuungunsten des Palastes untersagt. Bald wurden auch Richter, Staatsanwälte, Rektoren, Polizeichefs und Armeekommandeure ins „Heer der Anhänger“ eingegliedert. Äußerungen gegen ­Erdogan gelten nun als „Landesverrat“, Kritik ist Grund für Verhaftungen. Oppositionelle werden eingesperrt, gehen ins Exil oder verstummen. Menschen, die über Armut und Hunger und nach dem Erdbeben über mangelnde staatliche Hilfe klagen, wird beschieden, solche Dinge seien eben Schicksal.

Thema: Die Ära Erdogan

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ERSTMALS BREITE KOALITION DER OPPOSITION

Jetzt aber steht die Türkei an einer neuen Weggabelung: Die Wahlen am 14. Mai werden ein Volksentscheid über ­Erdogan sein. Erstmals fand die Opposition zu einer breiten Koalition zusammen, die Sozialdemokraten und Konservative, Nationalisten und Kurden umfasst. Ihr gemeinsamer Nenner lautet, die Türkei aus der Autokratie zu holen und zur Demokratie zurückzuführen. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass ­Erdogan besiegt werden könnte. Allerdings ist auch die Sorge weit verbreitet, dass ein autokratisches Regime, das Armee, Polizei, Justiz, Verwaltung und Medien kontrolliert und von Oligarchen unterstützt wird, nicht einfach abtritt. Viele fragen sich: Werden die Massen, die sich mit der Religion trösten, weil ­Erdogan ihnen die Sozialhilfe nicht mehr garantieren kann, ihn aufgeben? Werden Wahlurnen gestohlen, Ergebnisse manipuliert werden? Wird es eine Provokation der Art geben, wie ­Donald Trump sie anzettelte? Wie werden sich im Fall, dass bei einem Chaos die Regierung an der Macht festhält, Polizei, Militär und die dem Präsidentenpalast unterstehenden Milizen verhalten? Und wie wird sich ein möglicherweise in der Türkei entstehendes Konfliktklima auf Deutschland auswirken, wo die Menschen mit Türkei-Hintergrund stark polarisiert sind? Werden die Stimmen der erst vor Kurzem eingewanderten Regimegegner und der Erdogan-­Anhänger der alten Generation sich anders auswirken als bei vorangegangenen Wahlen?

Im Augenblick ist für Mitte Mai kaum noch ein Platz für Türkei-­Flüge zu bekommen: Die einen haben bereits gebucht, um heimzukehren, die anderen, um zu flüchten. Die düstere Klammer der vergangenen 30 Jahre in der 100-jährigen Geschichte des Landes ist dabei, sich zu schließen.