Ein Land auf der Couch

Das Regieduo Olivier Nakache und Éric Toledano verlegt mit „In Therapie“ die vielfach adaptierte israelische Serie „BeTipul“ in das traumatisierte Paris nach den Terroranschlägen von 2015.

Foto: Le Films du Poisson/ARTE

Menschen sitzen sich auf einem Sofa und einem Sessel gegenüber. Manchmal liegen sie. Sie reden miteinander, übereinander, durcheinander – und oft aneinander vorbei. Zu sehen sind immer wieder dieselben Räume, dieselben Gesichter, kaum Bewegung. Und doch sind wir als Zuschauer von Anfang an gebannt: Wir stecken mitten in einer Psychotherapie. Das ist das Erzählformat der hochspannenden und vielfach prämierten israelischen Serie „BeTipul“ (2005–2008) rund um einen Psychotherapeuten, der nicht nur Klienten betreut, sondern sich selbst in Behandlung begibt. Mittlerweile wurde sie in vielen Ländern adaptiert, darunter als gefeierte US-Fassung „In Treatment“. Offenbar hat die Grundidee einen Nerv getroffen, der die Menschen rund um den Globus verbindet. Denn neben den verschiedenen persönlichen Schicksalen und gesellschaftspolitischen Ereignissen, die jede Version prägen, lebt das Konzept von dem urmenschlichen Bedürfnis, sich mitteilen zu wollen.

Für die Regisseure ­Éric ­Toledano und ­Olivier ­Nakache war dieser zwischenmenschliche Austausch genau das, was die französische Gesellschaft nach den Terror­anschlägen in Paris im November 2015 am nötigsten hatte. Deshalb realisierten sie die französische Fassung der Serie: die 35-teilige ARTE-Koproduktion „In Therapie“. Das Duo, das 2011 mit der Komödie „Ziemlich beste Freunde“ Berühmtheit erlangte, wusste laut ­Toledano anfangs wenig mit dem Format Serie anzufangen: „Wir fanden ‚BeTipul‘ zwar stark, aber unser Ausdrucksmittel war der Spielfilm. Nach den Attentaten aber spürten wir, dass es ein dringendes kollektives Bedürfnis nach Dialog gab.“ Die Erzählweise der Serie bietet dafür den idealen Rahmen, denn Figuren und Raum werden kammerspielartig auf das Nötigste reduziert. „Ein Minimalismus, der das Wort in den Mittelpunkt stellt“, betont ­Nakache.

In Therapie

Serie

Donnerstag, 4.2. — 21.50 Uhr
bis 27.2. in der Mediathek

Stellvertretend für ein kollektives Trauma „In Therapie“ beginnt kurz nach den Attentaten in Paris. In einer Stadt unter Schock empfängt Psychotherapeut ­Philippe ­Dayan (­Frédéric ­Pierrot) in seiner Praxis nahe der Place de la République wöchentlich fünf Klientinnen und Klienten, die von den Ereignissen zwar nicht alle unmittelbar betroffen, aber doch von der Stimmung schwer gezeichnet sind. Ihr Befinden steht stellvertretend für ein kollektives Trauma – mit ihnen sitzt ganz Frankreich auf der Couch.

Unter ihnen ist die Chirurgin ­Ariane (­Mélanie ­Thierry), die in der Nacht des Terrors Tote und Schwerverletzte gesehen hat und sichtlich verstört ist. Überfordert ist sie auch vom Heiratsantrag ihres Freundes. Ob sie ihn annehmen soll, weiß sie nicht, wen sie tatsächlich begehrt, schon: Dayan. Auch ­Adel (­Reda ­Kateb) findet sich zu einer Sitzung ein. Der Polizist einer Spezialeinheit betrat mit seiner Truppe als einer der ersten die Bataclan-Konzerthalle und fand ein Massaker vor. Seitdem wird er von Blackouts geplagt. Als Mann der Missionen und nicht der Emotionen fordert er schnelle Behandlungsergebnisse. ­Camille (­Céleste ­Brunnquell) ist erst 16. Die Leistungsschwimmerin hatte einen Unfall – oder war es ein Suizidversuch? Zudem plagen sie ein schwieriges Verhältnis zu ihren geschiedenen Eltern und ein unangemessenes zu ihrem verheirateten Trainer. Schließlich kommen ­Léonora (­Clémence ­Poésy) und ihr Partner ­Damien (­Pio ­Marmaï) zur Therapie. Sie verheimlicht ihm viel, er kontrolliert sie oft.

Aufgewühlt durch diese Geschichten sowie eigene Probleme, sucht ­Philippe ­Dayan nach zwölf Jahren Funkstille selbst seine einstige Analytikerin und Supervisorin auf: ­Esther (­Carole ­Bouquet), Witwe seines früheren Mentors. Bei ihren Sitzungen entlädt sich ein zwischen ihnen schwelender Konflikt in scharfen Wortduellen rund um psychotherapeutische Ansätze und persönliche Verletzungen.

Getragen wird das Kammerspiel von einer hochkarätigen Besetzung. ­Frédéric ­Pierrot, der ­Dayan mit melancholischem Blick und viel Empathie spielt, glänzte etwa in ­Maïwenn Le ­Bescos Drama „Poliezei“ (2011). Die Dreharbeiten empfand er als Herausforderung: „35 Folgen lang zu sitzen, war nicht einfach. Doch gerade das hat es ermöglicht, sich auf sein Gegenüber einzulassen.“ ­Carole ­Bouquet, die seinen kühlen Gegenpart spielt, feierte ihren Durchbruch in ­Luis ­Buñuels „Dieses obskure Objekt der Begierde“ (1977) und spielt noch heute an der Seite von Frankreichs Filmgrößen. Die Serie lebe vom Dialog, so ­Bouquet, aber genauso von der physischen Präsenz der Gesprächspartner. In Corona-­Zeiten etwas, das ihr schmerzlich fehle. Sicher ist, dass die Auswirkungen der Pandemie auf unsere Psyche einen idealen Rahmen für eine weitere Version von „In Therapie“ liefern würden. Eine deutsche Fassung steht jedenfalls noch aus.

Nach den Terroranschlägen gab es ein kollektives Bedürfnis nach Dialog

Éric Toledano, Regisseur