Eisern für den Markt

Modern und reaktionär: Wie Margaret Thatcher zur Mutter des radikalisierten Konservatismus avancierte.

Eiserne Lady Margaret Thatcher
Foto: Express:Getty Images

Wenn verrentete Staatsführer ein hohes Alter erreichen, legt sich über manches scharfe Urteil oft ein rosaroter Schleier der Milde. ­Margaret ­Thatcher dagegen polarisierte über ihren Tod hinaus. Nachdem die seinerzeitige britische Premierministerin 2013 verstorben war, sangen die Fans des FC Liverpool Schmählieder, der Song „Ding-Dong, The Witch Is Dead“ („Ding-Dong, die Hexe ist tot“) stürmte gar bis auf Platz zwei der Charts. Thatchers Geist lebt sowieso bis heute weiter. 

Die in einer Kleinstadt der landwirtschaftlich geprägten Grafschaft Lincolnshire geborene Politikerin war auf schräge Weise Avantgarde: Die Fürsprecher der marktliberalen Schocktherapie in Osteuropa nach 1989, die antieuropäischen Brexiteers, die scharf nach Rechtsaußen strebenden radikalisierten Konservativen unserer Tage, die Anhänger ­Donald Trumps, Viktor Orbáns und Václav Klaus’ sowie die Wölfe der Wall Street – sie alle sind Zöglinge von ­Margaret ­Thatcher, die bekundete, dass der Sozialstaat unmoralisch sei, weil er die Menschen verweichliche, die Begierigen hemme und die Faulen belohne.

Die Britin bekämpfte die Konsenspolitik – den „middle way“ – ihrer Parteifreunde und schuf so etwas wie eine moderne Art, reaktionär zu sein. Denn der Nachkriegskonservatismus, sowohl in Kontinentaleuropa als auch auf der britischen Insel und in den USA, war entweder moderat und wohlfahrtsstaatlich gewesen oder eine Angelegenheit verstaubter Ewiggestriger, die mit der modernen Zeit haderten. Und dann kam da ­Margaret ­Thatcher, erst als Tory-Chefin, ab 1979 als Premierministerin. Dass bald danach mit ­Ronald ­Reagan auch noch ein Geistesverwandter in den USA Präsident wurde, erleichterte die Begründung einer Ära.

 

Margaret Thatcher steht vor britischer Flagge
Foto: Peter Jordan/Alamy Stock Photo/ARTE F

Die Thatcher-Jahre

Dokumentarfilm 

Dienstag, 13.6. — 20.15 Uhr
bis 11.8. in der Mediathek

In den USA war zuvor eine neue Spielart des radikalen Konservatismus entstanden. Die sogenannten Neo-Konservativen lehnten Sozialstaat, Kompromisse und Mäßigung ab, hielten den freien Markt und seine Tugenden des Wettbewerbs hoch, feierten einen extremen Individualismus und verdammten zugleich die linke Gegenkultur, die 68er mit ihrem „selbstzerstörerischen Nihilismus“. Mit den wirtschaftsliberalen Theorien ihrer Säulenheiligen wie ­Friedrich ­August von ­Hayek und ­Milton ­Friedman hatten sie alle nötigen Zutaten für ein geschlossenes ideologisches System: Staatsfeindlichkeit im buchstäblichen Sinn.

­Thatcher schlug genau in diese Kerbe. „There is no such thing as society“ war eine ihrer berühmtesten Aussagen. So etwas wie Gesellschaft gebe es nicht. Für sie galt: Es gibt nur individuelle Männer und Frauen. Und die Wirtschaft wird sich besser entwickeln, wenn man den Marktkräften freie Bahn schafft und dem Wettbewerb zwischen Individuen keine Grenzen auferlegt. Wer von einem Miteinander träumte, war in ihren Augen letztlich ein gefährlicher Spinner, der mit Staats­intervention nur Schaden anrichtete. ­Thatcher betrachtete die Welt als einen feindlichen Ort, an dem ein Kampf tobt – alle gegen alle. Die einzige funktionierende Schutzzone für sie: die Familie. 

 

Margaret Thatcher liest Zeitung
Foto: The Granger Collection New York/ARTE F

KAPITALISMUS VS. GERECHTIGKEITSGESCHWAFEL

Ähnlich wie radikale Ideologen sah sich Thatcher berechtigt, gegen wirtschaftshemmende Kräfte rigoros vorzugehen, etwa gegen die Gewerkschaften, denen sie im Bergarbeiterstreik den Rücken brach. Was im Menschenbild die Individuen, war ihr im Weltbild die Nation, weshalb sie innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (dem Vorläufer der Europäischen Union) die Interessen Großbritanniens mit legendärer Ruppigkeit vertrat. Den Spitznamen „Eiserne Lady“ trug sie mit Freude. Ihr Kampfruf gegen Brüssel lautete: „I want my money back.“

Doch wie alle erfolgreichen Ideologen hat Thatcher nicht nur mit negativen Botschaften, Angstparolen und eiserner Faust reüssiert. Ihre Privatisierungspolitik bewarb sie nicht damit, dass dadurch die Reichen noch reicher würden. Sondern mit dem Versprechen, die Briten zu einem Volk von Eigentümern zu machen. Thatchers Pro-Kapitalismus galt in den 1980ern plötzlich vielen als modern, während Sozialismus, Sozialdemokratie oder Sozialhumanismus verstaubt klangen oder gar als Gerechtigkeitsgeschwafel herabgewürdigt wurden. Die Frau mit Betonfrisur und schwingender Handtasche war auf seltsame Weise die Verkörperung der Yuppie-Epoche, deren Spieltrieb und Kampfesstimmung. Margaret Thatcher war in diesem Sinne zeitgeistig, auch wenn man ihr das nicht direkt anmerkte.

Robert Misik ist ein österreichischer Journalist und politischer Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Essay „Die falschen Freunde der einfachen Leute“ (Suhrkamp).