Es war einmal …

ERZÄHLER Die ARTE-Doku „Märchen für die Welt“ handelt vom Leben des dänischen Nationaldichters Hans Christian Andersen. Es war so entbehrungsreich wie wundersam – und lieferte den Stoff für seine Geschichten.

Illustrationen: Sarah Matuszewski

… ein mittelloser Knabe, …
Die Sterne standen nicht gut für ihn, als Hans ­Christian ­Andersen 1805 in der dänischen Provinz geboren wurde. Zumindest sah es in seinen ersten Jahren so aus. Als Sohn eines Schuhmachers und einer alkoholkranken Mutter wuchs er im Armenviertel der Inselstadt Odense auf. Die Winternächte im Elternhaus waren so bitterkalt, dass er sich ein Leben lang daran erinnern würde. Als ­Andersen sieben Jahre alt war, verließ sein Vater die Familie, um in den Kampf zu ziehen. Als dieser zurückkehrte – die Dänen hatten die napoleonischen Kriege an der Seite Frankreichs verloren –, war er ein gebrochener Mann. Kurz darauf starb er.

Märchen für die Welt – Hans Christian Andersen

Porträt

Samstag, 19.12. • 20.15 Uhr
bis 18.3.2021 in der Mediathek

… der auszog, um …
Andersens Mutter nahm von da an jede erdenkliche Arbeit an, um für sich und die Halbwaise zu sorgen. Von früh bis spät stand sie als Wäscherin im Fluss von Odense, nachts ertränkte sie ihre Trauer in Likör. ­Andersen litt unter dem Alkoholismus seiner Mutter und der Enge seiner Heimatstadt, in der er von klein auf als Außenseiter behandelt wurde. Der schlaksige, introvertierte Junge träumte davon, Odense hinter sich zu lassen und etwas Großes aus seinem Leben zu machen. So nahm er mit 14 Jahren all seine Ersparnisse und kaufte sich ein Ticket für die Postkutsche Richtung Kopenhagen. Zum Abschied sagte er zu seiner Mutter: „Man macht erst entsetzlich viel Schlimmes durch, und dann wird man berühmt!“

… sich zu verlieben, …
Ohne Geld, aber mit dem festen Vorsatz, ein berühmter Mann zu werden, schlug sich der junge Andersen in Kopenhagen zunächst allein durch. Er klopfte an die Türen wohlhabender Bürger und sprach, sang und tanzte ihnen vor. Seine Auftritte wirkten grotesk und ungelenk, doch er fand hier und da einen Gönner, der ihm etwas Geld gab. Eines Tages wurde der Direktor des Königlichen Theaters auf den Almosensammler aufmerksam. Er erkannte dessen literarisches Talent, bezahlte ihm eine Schulbildung und nahm ihn in sein Haus auf. Dort verliebte ­Andersen sich hoffnungslos in den Sohn seines Förderers, ­Edvard ­Collin. Der wollte zwar mit ­Andersen befreundet sein, erwiderte dessen romantische Gefühle aber nicht. „Wie ­Moses schaue ich in das gelobte Land, in das ich selbst niemals komme“, schrieb ­Andersen, als ­Collin Jahre später schließlich eine Frau heiratete. ­Andersen verliebte sich noch mehrfach; mal in Frauen, mal in Männer, in der Regel jedoch unglücklich. Zurückgewiesen und verschmäht wuchs sein Bedürfnis, sich als Künstler einen Namen zu machen.

… Geschichten zu schreiben und …
Unter der Obhut seines Förderers begann Andersen mit dem Schreiben. Er versuchte sich an Gedichten, Theaterstücken und Romanen – berühmt machten ihn jedoch Märchen wie „Die Prinzessin auf der Erbse“ oder „Die kleine Meerjungfrau“. Wie die Brüder Grimm griff Andersen dabei teilweise auf alte Volksmärchen zurück, leitete aus ihnen aber zunehmend eigensinnige Geschichten ab. Das Neue an seinen Märchen war, dass nur wenige von Königen und Prinzessinnen handelten. Stattdessen gab er Tieren eine Stimme oder erweckte Alltagsgegenstände wie Feuerzeuge und Nadeln zum Leben. Seine Andersartigkeit wurde dabei zu einer schöpferischen Kraft; und die Entbehrungen und Kränkungen, die der Autor von Kindesbeinen an erlebt hatte, verwandelte er in bittersüßen Märchenstoff. So war die Geschichte „Vom standhaften Zinnsoldaten“ von ­Andersens Vater inspiriert, den der Krieg das Leben gekostet hatte. Und auch die elende Kälte, die „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in der eisigen Neujahrsnacht erfrieren lässt, hatte er als Kind am eigenen Leib erlebt. Mit seiner bildhaften, oft lautmalerischen Sprache erreichte ­Andersen die Kinder. Während seine Sozialkritik, die in vielen seiner Erzählungen mitschwang, an die erwachsene Leserschaft adressiert war. Eine seiner bekanntesten Erzählungen, „Das hässliche Entlein“, handelte von der schmerzlichen Erfahrung der Zurückweisung, die ­Andersen nie ganz überwand. Auch nicht, nachdem er sich als Schriftsteller einen Namen gemacht hatte und zum gern gesehenen Gast in dänischen Adelskreisen und im Königshaus avanciert war.

… die Welt zu bereisen.
Rastlos und in seinem Inneren heimatlos geblieben, suchte ­Andersen immer wieder die Flucht nach vorn. 1831 brach er zu seiner ersten großen Exkursion nach Deutschland auf. „Reisen ist Leben“, stellte er fest, als er in der Sächsischen Schweiz zum ersten Mal die Berge sah. Insgesamt neun Jahre ­tingelte der Dichter durch 29 Länder in Europa und ­Nordafrika, wobei er, hin- und hergerissen zwischen ­Abenteuerlust und Ängstlichkeit, immer ein Seil mit sich führte, um sich im Fall eines Hotelbrandes aus einem ­Fenster abseilen zu können. Seine längste Reise führte ­Andersen 1841 bis nach Konstantinopel. Später traf er seine Schriftstellerkollegen ­Heinrich ­Heine in Paris und ­Charles ­Dickens in London. Die beschrieben den Gast aus Dänemark als seltsamen Zeitgenossen, süchtig nach Anerkennung und maßlos in seinen Ansprüchen. ­Andersen selbst behielt die gemeinsame Zeit in bester Erinnerung.

Und wenn er nicht gestorben ist, …
Hans Christian Andersen hinterließ ein Vermächtnis von 168 Märchen, die, in 120 Sprachen übersetzt, bis heute von Kindern und Erwachsenen auf der ganzen Welt gelesen werden. Eine in Bronze gegossene „Kleine Meerjungfrau“ ist zum Wahrzeichen Kopenhagens geworden, wo seine Schriftstellerkarriere begann und endete. „Mein Schicksal hätte nicht glücklicher, klüger und besser geleitet werden können“, resümierte ­Andersen, bevor er im Alter von 70 Jahren starb – kaum anders als die letzten Worte des „Hässlichen Entleins“, das sich nach einer leidvollen Odyssee durch das Leben in einen Schwan verwandelt sah und sagte: „So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das hässliche Entlein war!“