Musik, die niemals stoppt

Glamour und Hedonismus – im New York der 1970er trifft ein diverses Publikum auf neue, zwingend tanzbare Musik: Disco. Wie das Genre die Welt eroberte.

Frau schwingt eine Discokugel
Foto: Jakob Owens / Unsplash

Luftballons, überall Luftballons. „Sie hingen unter der Decke und schwebten über dem Boden“, erinnert sich später einer der ersten Gäste, „in einem Zimmer stand ein langes Bankett mit Früchten, Nüssen, Punschbowlen; in den anderen Zimmern wurde ausgelassen getanzt.“ Die Musik, zu der man tanzt, ist eine Mischung aus Soul, Funk und Salsa, afrikanischen Rhythmen und Gospelsongs, von den Plattenauflegern elegant im Fluss gehalten und manchmal auch dramaturgisch so virtuos verschleppt und dann wieder gesteigert, dass die Leute bei einem rhythmischen Break umstandslos zu jubeln beginnen.

„Love Saves the Day“, Liebe rettet den Tag, heißt diese Party, die ­David ­Mancuso erstmals am Valentinstag 1970 in einem aufgelassenen Lagergebäude in Manhattan veranstaltet, ein spielerisch enthemmtes Spektakel, das schnell als beste Party der Stadt angesehen wird, obwohl – oder gerade weil – nur geladene Gäste dazu Zutritt erhalten. Die meisten sind – wie der Veranstalter – schwule Männer. Aber es befinden sich auch viele Frauen darunter; man sieht Weiße, Latinos, Afroamerikaner: So ethnisch bunt, sagen Zeitzeugen, waren sonst keine Partys im New York jener Zeit.

Geboren 1944 in Upstate New York, ist ­David ­Mancuso Mitte der 1960er nach Manhattan gezogen und engagiert sich in Bürgerrechtsgruppen, vor allem in der Schwulenbewegung, die besonders nach den Stonewall Riots 1969 an Zulauf und Energie gewinnt. Doch paart sich das politische Engagement bei ihm schon immer mit der Lust am Feiern und mit einer Leidenschaft für Musik. Schnell beginnt er, in den damals flächendeckend leer stehenden Fabriken im Stadtteil SoHo und Umgebung Partys zu veranstalten. Das Loft an der Ecke Broadway/Bleecker Street, in dem die „Love Saves the Day“-Nächte stattfinden, wird schließlich zu seinem festen Domizil und unter dem Namen The Loft zur Geburtsstätte der New Yorker Clubszene.

Die Musik, die man hier zu hören beginnt, soll bald Disco heißen: Es ist eine Musik, in der die unterschiedlichsten Musikstile miteinander verflochten werden; eine Musik, die sich bei allem stilistischen Reichtum und teils schwelgerischer Romantik vor allem durch ihre repetitive Rhythmik auszeichnet und die sich, wenn sie wie im Loft in die Hände von guten DJs gelangt, in einen einzigen, langen Fluss fügt. Eine Bewegung, die niemals aufzuhören scheint: eine „music that never stops“.

In New York finden die Partys im Loft schnell viele Nachahmer: Im Sommer 1970 eröffnet der Ice Palace auf Fire Island, einer vor allem von Bohemiens und Schwulen bewohnten kleinen Insel vor dem südlichen Ende von Long Island. Hier gestaltet wiederum der junge DJ Tom ­Moulton seine ersten Partynächte. Er nimmt die Idee der endlosen Musik besonders ernst: ­Moulton schneidet die Musik, zu der getanzt werden soll, aus Unmengen von winzigen Tonbandschnipseln zusammen; er bastelt die Rhythmen aufeinander folgender Songs inein-ander, bis die Übergänge so fließend sind, dass man nicht mehr weiß, wo die Stücke aufhören und wo sie beginnen. Er verlängert die Stücke, indem er rhythmische Motive kopiert und die Kopien hintereinander setzt – eine Technik, die man später als „Loop“, als Klangschleife, bezeichnen wird. 1975 produziert er seine erste Langspielplatte: „Never Can Say Goodbye“, das Debütalbum der Sängerin ­Gloria ­Gaynor. Es gerät zu einem unerhörten Erfolg – und ­Gaynor wird als erste Diva der Disco-Kultur gefeiert.

Disco – Soundtrack eines Aufbruchs

3-tlg.-Dokureihe

Freitag, 2.2.
ab 21.35 Uhr
bis 2.3. in der Mediathek

Porträt von Donna Summer im roten Kleid
Dancefloor Role Models: Donna Summers laszive Stimme prägt Disco als Soundtrack der sexuellen Befreiung. Foto: Harry Langdon / Getty Images

FRAGMENTIERTES UTOPIE-VERSPRECHEN

1975 gibt es in den USA schon mehr als 10.000 Clubs, in denen DJs nach Art von ­David ­Mancuso und Tom ­Moulton ihre Tanzflächen beschallen. Auch gehen immer mehr Produzenten dazu über, ihre Musik wesentlich auf diese besonderen Zwecke der Tanzbarkeit auszurichten. Mitte der 1970er Jahre ist Disco zum Lieblingssound der heranwachsenden Jugend geworden. Im Rausch der Partys, in der ungehemmten Feier des gemeinsamen Tanzens, findet sie eine neue Version jenes popkulturellen Utopie-­Versprechens, das schon die vorangegangene Hippie- und Woodstock-­Generation Ende der 1960er beflügelt hat: dass Musik eine Gemeinschaft zu stiften vermag, die dazu geeignet ist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Es gibt allerdings einen Unterschied, der viel über das gesellschaftliche Klima der 1970er sagt: Um zur Disco-Musik zu tanzen, versammeln sich nicht mehr – wie etwa in Woodstock – riesige Menschenmengen auf freien Feldern. Vielmehr sind es viele kleine Mengen von Menschen, die sich in vielen kleinen Clubs treffen. Das passt zur Fragmentierung der Gesellschaft in diesem Jahrzehnt. Die Hoffnungen auf globale Emanzipation, die die Hippies am Ende der 1960er hegten, sind brutal enttäuscht worden; die Bürgerrechtsbewegungen sind zerfallen oder zerschlagen, das politische Klima ist restaurativ. „Disco war eine Art Schutzraum, in den man sich zurückziehen konnte, um dort auf bessere Verhältnisse zu warten“, so hat es der Gitarrist und Songschreiber der Gruppe Chic, Nile ­Rodgers, später gesagt. Die Clubs der
Disco-Kultur bieten Räume, in denen Dinge erlaubt sind, die anderswo noch verboten oder gefährlich sind: zum Beispiel, dass Männer Männer küssen oder auch nur Männer mit Männern tanzen. Oder eben: dass weiße, schwarze, lateinamerikanische Menschen miteinander feiern und wenigstens während der gemeinsamen Party rassistische Abgrenzungen überwinden. Das heißt, um ein Wort aus unserer Gegenwart zu benutzen: Disco ist Musik für „safer spaces“ und Musik, die in „safer spaces“ entsteht.

Disco war eine Art Schutzraum

Nile Rodgers, Songschreiber der Band Chic
schwarz-weißes Porträt der Band Chic
Chic bringt schwarzen Soul in die Discomusik. Foto: Gilles Petard / Redferns / Getty Images

Dadurch wird das Genre zum Soundtrack der schwulen Emanzipation in den 1970ern und zum Soundtrack der sexuellen Befreiung. Nie zuvor war eine Spielart der Popkultur ungehemmter und lustvoller sexualisiert. „I Feel Love“ heißt der Song, in dem der in München wirkende Produzent ­Giorgio ­Moroder diese Entwicklung 1977 buchstäblich zum Höhepunkt treibt: Über einen repetitiven Synthesizer-Sound lässt er die Sängerin ­Donna ­Summer fast zehn Minuten lang ins Mikrofon hecheln, hauchen und stöhnen. Über dem Minimalismus der sie begleitenden Beats entfaltet Donna Summer mit ihrer schönen, vollen, körperlichen Soulstimme eine Intensität, die in der Musik der Zeit ihresgleichen sucht.

Es ist aber vor allem der Gebrauch der elektronischen Rhythmen, mit dem Giorgio Moroder gleich mehrere nachfolgende Generationen von Produzenten und DJs prägt: „I Feel Love“ ist die Geburtsstunde der elektronischen Clubmusik, von House über Techno bis zu den unendlich vielen Spielarten unserer Gegenwart. Unter dem Namen Hi-NRG (gesprochen: „High Energy“)wird der Sound zunächst in den USA von den DJs der schwulen Sub­kultur in San Francisco aufgegriffen. 1978 verschafft der Produzent Patrick Cowley der Dragqueen Sylvester mit „(You Make Me Feel) Mighty Real“ den ersten Hit – und die erste Hymne der entstehenden LGBTQIA*-Bewegung, deren Mitglieder die überkommenen Grenzen der binären Geschlechterverhältnisse infrage stellen.

Ende der 1970er ist Discomusik ihrerseits auf dem Höhepunkt der Popularität angelangt. Der Film „Saturday Night Fever“ mit John ­Travolta macht sie bei einem Massenpublikum bekannt, die Village People bringen die Ästhetik der schwulen Szene in die Hitparaden, das Studio 54 in New York wird zum Inbegriff der hedonistischen Feierkultur. Damit wächst freilich auch der Widerstand der Mehrheitsgesellschaft gegen eine Musik, die viele weiße heterosexuelle Männer als „schwarz“, „schwul“ und – wegen des Fehlens elektrisch verstärkter Rockgitarren – als „unehrlich“ und „künstlich“ verachten. 1979 entladen sich die rassistischen und homophoben Vorurteile in einem Football-Stadion in Chicago, als ein Rock-DJ in einer Spielpause eine Kiste mit Disco-Platten in die Luft sprengt. Darauf stürmen große Teile des Publikums auf das Feld, randalieren und grölen „Disco Sucks“. Nach dieser „Disco Demolition Night“ kippt die öffentliche Meinung in den USA rapide, viele Radiostationen nehmen die Musik aus dem Programm, viele Plattenfirmen wollen keine Discomusik mehr verlegen. Die erste große Welle der Disco, ihr goldenes Zeitalter, ist damit am Ende.

Porträt von John ­Travolta
John ­Travolta wird mit seiner Rolle in „Saturday Night Fever“ zur Ikone. Foto: Schapiro / Corbis / Getty Images

Aber ihr Geist wird weitergetragen und ihre Geschichte weitergeschrieben, bis in die Gegenwart. Der DJ Frankie Knuckles, der seine Karriere in den 1970ern in New York begonnen hat, geht Anfang der 80er nach Chicago und begründet dort in dem Club Warehouse die House-Kultur, ihrerseits von elektronischen Rhythmen geprägt. In Detroit entsteht wenig später das, was wir heute als Techno bezeichnen. Alle diese Stile gründen auf den Techniken und Innovationen der Produzenten der ersten Disco-Generation: auf dem Loop, auf dem Mix und dem Re-Mix. In jeder Art von Musik, in der Menschen in Clubs heute tanzen, finden sich Spuren von Disco – und von den Freiheits- und Glücksversprechen, die die Entstehung dieser Musik einst prägten.

Kein Zufall, dass einige der tollsten Künstlerinnen unserer Zeit sich wieder ausdrücklich an der goldenen Disco-Ära orientieren: die große Dancefloor-Diva Kylie Minogue, aber auch jüngere Sängerinnen wie Dua Lipa – und wie ­Jessie ­Ware, die den schwelgerischen Sound der 1970er Jahre zuletzt mit der größten Leidenschaft und Kunstfertigkeit in die Gegenwart gebracht hat: „That! Feels! Good!“ heißt ihr aktuelles Album aus dem Jahr 2023. Es ist kein Zufall, dass gerade in Zeiten der sich verschlimmernden Krisen und Katastrophen wieder die Sehnsucht nach einer Musik wächst, die rauschhaftes Glück in einer tanzenden Gemeinschaft verspricht – einer Musik, die niemals aufhört; und die einem Räume der Freiheit eröffnet, in denen man dem Elend der restlichen Realität wenigstens für eine Nacht, die niemals aufhört, entkommen kann.

Zum Autor

Jens Balzer zählt zu Deutschlands führenden Pop-Experten. Er schreibt u.a. für Die Zeit, den Rolling Stone, und publiziert Bücher, darunter „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“.