Den Traum noch größer träumen

Europa steht vor einer entscheidenden Wahl: In welche Zukunft steuert die Europäische Union? ARTE-Moderatorin Jagoda Marinić blickt auf einen Kontinent, der Hoffnung machen sollte.

Es ist keine einfache Zeit für Europa. Noch vor zehn Jahren hatte ich den Eindruck, die Zukunft des Kontinents bewegt viele Menschen: Autoren schrieben Essays über ihre Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen. Zahlreiche Veranstaltungen stellten die großen Fragen und wagten große Visionen, die ernsthaft diskutiert wurden: etwa die Republik Europa. Müsste man den Traum der Gründerinnen und Gründer dieser Europäischen Union nicht noch etwas größer träumen, wagten viele zu fragen. Ganz gleich, wie machbar das juristisch wäre und ob es eine Mehrheit bekommen könnte: Allein der Traum zeugte davon, dass man die Möglichkeiten für die Zusammen­arbeit der europäischen Länder nicht ausgeschöpft hatte und es ein Bedürfnis nach mehr gab.

Heute sprechen nicht mehr viele über die großen Ideen. Die meisten sind verunsichert, spätestens seit Großbritannien demonstriert hat, dass es Wege hinaus aus der Union gibt – wenngleich der Brexit auch zeigt, wie schwierig ein Austritt ist. Die Europäische Union als politisch-institutioneller Rahmen für das Miteinander der Staaten ist trotz allem fragiler geworden; es wird deutlich, dass die Europäische Union naturgemäß kein endloses Erfolgsprojekt sein muss. Sie könnte eben, wie das meiste in der Menschheitsgeschichte, nur eine kurze Phase des Gelingens gewesen sein. Sicher ist: Sie wird enden mit dem Moment, da sich Europäerinnen und Europäer nicht für dieses Europa einsetzen. Denn es gibt stärker werdende Kräfte, die statt von mehr europäischer Integration lieber vom Grexit, Frexit und Dexit sprechen. Sie verkaufen den Traum vom Ende der EU als zeitgemäße europäische Vision. Überhaupt sind die Negativ-Träumer en vogue, die Rückabwickler, jene, die sich Fortschritt nicht mehr vorstellen können und von einer Rückkehr zum Gestern träumen, als sei das möglich in Zeiten, in denen sich die Herausforderungen verändert haben. Der französische Präsident ­Emmanuel ­Macron brachte diese Gefahr zuletzt im April in seiner Europarede an der Sorbonne mit einem realistischen Satz auf den Punkt: „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unser Europa heute sterblich ist (…). Es kann sterben, und das hängt allein von unseren Entscheidungen ab.“

Die Autorin
Jagoda Marinić, Schriftstellerin

Für die mehrteilige ARTE-Webreihe „Nice to meet you“ porträtiert die Autorin filmisch verschiedene Menschen und diskutiert über
das europäische Projekt.

 

Schwerpunkt

Europa 2024

Rund 350 Millionen Europäer in 27 Mitgliedstaaten wählen im Juni ihre Vertreter – in einem Europa, das vor zahlreichen Herausforderungen steht. Für welche Richtung entscheiden sich die Europäer? ARTE begleitet die EU-Wahl live mit einer Sondersendung.

Mit „unser Europa“ bezieht sich Macron auf das Europa, in dem die europäischen Staaten im Rahmen der EU heute zusammenarbeiten. Er plädierte dafür, diese EU weiter zu denken, die sogenannten Westbalkanstaaten und die Ukrainer als Teil davon zu sehen. Er sprach vom Schutz der Grenzen, der Ablösung von den USA und der Notwendigkeit einer europäischen Verteidigungspolitik. Seine Vision ist geprägt von den wirtschaftlichen Gründungsgedanken der heutigen EU und setzt auf „Made in Europe“ in wichtigen Sektoren wie Energie, Weltraum und Künstlicher Intelligenz.

Diese Rede eines europäischen Politikers war notwendig in diesen Zeiten, in denen zu wenige politisch Verantwortliche darüber sprechen, wie dieses Europa in die Zukunft gehen kann. Die Rückkehr zu nationalstaatlicherem Denken kann keine Antwort sein, da es angesichts der neuen Weltordnung sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch unmöglich sein wird, als Nationalstaat gegen die neuen Macht- und Einflusssphären zu bestehen. Wenn die europäischen Länder im Rahmen der EU ein strategisch relevanter Ort bleiben ­möchten, braucht es ein starkes Europa mit starken Nationalstaaten. Die vermeintliche Gegensätzlichkeit muss enden, denn: Wer Europa stärkt, stärkt auch die Nationen – natürlich in einem weniger chauvinistisch-nationalistischen Sinn, als das rechtsextreme Kräfte propagieren, sondern im Sinn der Wertschätzung der kulturellen Differenzen und Qualitäten.

MEHR BILDUNG, MEHR AUSTAUSCH 

Jenseits der Stärkung der wirtschaftlichen und außenpolitischen Zusammenarbeit braucht Europa jedoch ein Bewusstsein für die Kraft, die aus den Differenzen der Regionen und Länder entsteht. Die Menschen in den einzelnen Ländern müssen im Mittelpunkt stehen mit ihren Eigenheiten, ihren Bedürfnissen, ihrer Kultur und ihren Träumen. Sie müssen gemeint, verstanden und gefördert werden. Heute sprechen alle von einer Zukunft mit Künstlicher Intelligenz – doch nur die Kontinente, die zuvorderst menschliche Intelligenz und Kreativität fördern und entwickeln, werden es schaffen, eine entscheidende Kraft im Bereich der KI zu werden. Europas Jugend braucht daher mehr Bildung, mehr Austauschprogramme zur Erweiterung ihres nationalen Horizonts und zur Stärkung des Einheitsgefühls. Wie wird das kulturelle Erbe Europas vermittelt und gepflegt? Weshalb gibt es so große Unterschiede in den Bildungsausgaben der einzelnen EU-Staaten? Digitale Kompetenzen für soziale Medien müssen einhergehen mit sozialer Kompetenz – vor allem da aktuelle Studien zeigen, dass die digitalen Erlebnisse viele Jugendliche psychisch belasten.

Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erlebt Europa eine Phase der Remilitarisierung. Doch gerade wenn Militärausgaben steigen, muss auch in die Vermittlung von europäischer Geschichte und in humanistische Werte investiert werden. Krieg, wo er erzwungen wird, braucht ein solides Völkerrecht. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien und der Völkermord in Srebrenica zeigen, dass mitten in Europa das Grauen jederzeit wiederholbar ist. Ein Gedenken jenseits der rhetorischen Blasen, das Erinnerung möglich macht, ist umso wichtiger in einer Ära, in der auch die postkoloniale Vergangenheit aufgearbeitet wird. Das Wissen um die Geschichte dieses Kontinents ist geradezu die Voraussetzung für einen ernstzunehmenden Dialog.

Europa ist ein alternder Kontinent, warnen die Demografen. Gleichzeitig fürchten sich gerade die Älteren oft vor der Erneuerung und Veränderung durch Einwanderung. Deshalb sollten wir in Europa auch darüber nachdenken, wie der große Anteil der Älteren ins Alter begleitet wird. Wer hilft ihnen beim Verstehen der digitalen Neuerungen, die durchaus rasant sind für analog Aufgewachsene? Was tun gegen die Einsamkeit? Wir müssen nicht nur über die Jüngeren nachdenken, sondern auch über die Würde des Alterns. In der Einsamkeit suchen viele Trost in sozialen Netzwerken, doch es fehlt ihnen oft die Medienkompetenz, die Inhalte einzuordnen, und so landen Ältere oftmals in den ideologischen Fängen von Telegram–Kanälen und können News nicht mehr von Fake News unterscheiden. So wie viele Jugendliche auf TikTok allein gelassen werden und zu oft den gut organisierten rechtspopulistischen Kräften in die Arme laufen.

Was ist die Strategie der demokratischen Europäerinnen und Europäer? In den letzten Jahren war es oft Empörung. Doch das wurde überstrapaziert und funktioniert nicht mehr. Routinierte Empörung ist leider kein positiver Impuls. Es ist zu einfach, sich zu empören. „Indignez–vous!“ schrieb der französische Diplomat und Lyriker -Stéphane -Hessel in einer Zeit, in der Empörung vielleicht noch geholfen hat. Im Zeitalter des Digitalen ist Empörung das zentrale Instrument, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu gewinnen. Und Aufmerksamkeit ist eine wichtige Währung, sie ist das Gold der Goldgräber der Gegenwart. Ziel der öffentlichen Empörung ist es aber auch oft, Tabus zu brechen oder menschenfeindliche Konzepte wie zuletzt das der Remigration salonfähig zu machen. Wer sich unbedacht empört, macht plötzlich Menschen berühmt, die demokratiefeindliche Ideen in den Diskurs schleusen. Empörung wird Europa nicht in eine bessere Zukunft tragen, sie wird nicht helfen, wenn es darum geht, den demokratischen Grundgedanken in Europäer und Europäerinnen zu stärken. Sie wird lediglich die Ideen und Weltanschauungen jener bekannter machen, die dieses freie Europa, wie es heute noch existiert, nicht mehr haben wollen.

Was also braucht es, damit „unser Europa“ nicht stirbt? Ich bin überzeugt, wir brauchen mehr europäische Kultur, mehr Neugier aufeinander. Ich durfte dieses Jahr als Filmautorin und Botschafterin für ARTE durch verschiedene Regionen Europas reisen und mir einen kleinen Eindruck über die Stimmungen auf dem Kontinent verschaffen. Ich musste gleich zu Beginn an -Gloria -Steinem und ihr Buch „My Life on the Road“ denken, in dem sie schrieb: „Vieles, das mir auf der Reise begegnete, waren andere Sorgen und Gedanken als jene, die ich medial vermittelt bekommen hatte.“ Als ich mich auf den Weg machte, ging es mir genauso. In den Medien werden zwar die großen Konfliktlinien treffend dargestellt, aber vieles andere bleibt unterbelichtet. Im Fall von Polen etwa weiß man viel über die Angriffe auf die LGBTIQ-Szene, aber wenig über die Kraft, mit der sich die Menschen dort eine lebendige queere Szene aufgebaut haben. Berührend sind die Momente mit Menschen, die im Alltag füreinander da sind: eine Busfahrerin, die mitten in der Nacht aus dem Bett steigt, um die Bewohner ihrer Stadt pünktlich zur Arbeit zu fahren; eine Krankenschwester, die in menschlicher Verbundenheit Fremde pflegt. Viele von diesen Menschen sind Einwanderer – doch wie viel erzählen wir uns von diesem hoffnungsvollen Kontinent, in den und in dem Menschen Einwanderer werden? Meist hört man nur das Problematische. Während inzwischen Konsens herrscht, dass Europa die Kontrolle über seine Grenzen gewinnen sollte, wird zu wenig darüber gesprochen, wie das im Einklang mit europäischen kulturellen Werten geschehen kann. Bloße Abschreckungspolitik, die Menschen an unseren Grenzen ihr Leben kostet, ist zu wenig.

Europa eignet sich nicht für simplen Patriotismus

Jagoda Marinić, Schriftstellerin

DIE SCHATTENSEITE DER GESCHICHTE

Europa kann ein Netzwerk des Gelingens sein, wenn es aus seiner Vergangenheit lernt, statt sich konservierten und neu aufgewärmten Ideologien hinzugeben. Jedes europäische Land hat kulturelle Besonderheiten, historisch gewachsene Stärken und Schwächen. Das Wissen darum kann zur Bastion gegen die eigene Ignoranz werden. Ein ignorantes Europa kann sich weder die Welt noch Europa selbst leisten. Die Herausforderungen seitens der autoritären Herrscher sind zu groß. Europa kann dann seine Bedeutung erhalten, wenn wir uns unseres demokratischen Kerns bewusst werden und der Kampf unserer Vorfahren um demokratische Werte verinnerlicht wird. Die Brüsseler Politik kann das nicht stemmen, denn es geht um das kulturelle Herz Europas.

Das alles ist eine Herausforderung in diesen apokalyptisch anmutenden Zeiten, in denen viele Menschen den Glauben an die zivilisatorischen Errungenschaften dieses Kontinents verlieren. Noch sind wir bei der Aufarbeitung der Schattenseiten der europäischen Geschichte. Doch Europa hat keine Zeit für eine Aufarbeitung, ohne der Gegenwart und vor allem der Zukunft entgegenzugehen. Wir brauchen mehr Wissen über uns selbst, mehr konstruktiven Journalismus statt Sensationsgier. Trotz der dunklen Kapitel der europäischen Vergangenheit braucht es – gerade jetzt, da die letzten Zeitzeugen sterben – eine Erzählung über Europa, der es gelingt, die kulturellen Errungenschaften der Nachkriegszeit, das, was dieser Kontinent aufzubauen wusste nach der historischen Katastrophe, weiterzugeben.

Europa eignet sich nicht für aufgeladenen Patriotismus, dafür sind die Schattenseiten der Geschichte zu groß. Doch es eignet sich sehr wohl als ein Ort der Hoffnung, als Kontinent, der Wege gefunden hat, aus den dunklen Kapiteln der Geschichte etwas Konstruktives zu ziehen – etwa das deutsche Grundgesetz, das dieses Jahr sein 75. Jubiläum feiert und das die Grundrechte nur deshalb in den Mittelpunkt stellt, weil unsere Gründer-väter und –mütter erlebt haben, was mit einem Kontinent geschieht, der die Freiheitsrechte seiner Bürger nicht wahrt. Es ist kompliziert, dieses widersprüchliche Europa zu lieben. Und doch bin ich überzeugt, dass man ohne die emotionale Bindung an diesen Kontinent auch seine Werte und seine Bedeutung nicht verteidigen kann.