Eine Hand voll Frauen und Männer in bäuerlichem Gewand sitzt an einem Tisch, eine Gaslaterne schimmert spärlich an der Decke des kahlen Raums. Wer diese Szene von Vincent van Goghs frühem Ölgemälde „Die Kartoffelesser“ heute betrachtet, mag sie nicht sonderlich extravagant finden für das 19. Jahrhundert. Doch im Entstehungsjahr 1885 war das Bild so außergewöhnlich, dass es harsche Kritik auslöste: Zu dunkel und monochrom seien die Farben, hieß es. Zu schroff die Darstellung der Gesichter und zu nachlässig die Perspektive. Van Gogh ließ sich davon nicht beirren und malte weiter ohne Rücksicht auf Konventionen. Er gilt deshalb zu Recht als einer der größten Exzentriker seiner Generation. Was das Beispiel zeigt: Ob Kunst als exzentrisch betrachtet wird, lässt sich nur im Kontext der Zeit beantworten. Umso spannender daher die Frage: Welche Kunst ist heute, im von digitalem Content überfrachteten 21. Jahrhundert, in dem immer mehr Material durch Künstliche Intelligenz automatisiert erzeugt wird, überhaupt noch exzentrisch? Die ARTE-Dokumentation „Exzentrisch – Die Kunst der Andersartigkeit“ sucht im Februar nach Antworten und lässt dazu zahlreiche kontemporäre Künstlerinnen und Künstler zu Wort kommen.
Unter ihnen eine der schillerndsten Persönlichkeiten der französischen Kunstwelt: Orlan. Seit den 1960ern widmet sich die Vertreterin von Body-Art und Performance-Kunst Themen wie Geschlechtsidentität, Körperkult und Religiosität. „Exzentriker sind Originale, also Personen, die ein bisschen verrückt sind, ein bisschen leger, ein bisschen anders und die den Ort, den man für sie vorgesehen hat, nicht akzeptieren“, sagt Orlan in der ARTE-Dokumentation. Dass nicht nur sie als Mensch, sondern auch ihre Kunst das Prädikat „exzentrisch“ verdient, liegt auch an den radikalen Ausdrucksformen von Orlan: Sie nutzt den eigenen Körper als Material ihres künstlerischen Schaffens und setzt plastische Chirurgie als eine Art Performance ein. Das allgemeine Verständnis von Schönheit versucht sie dabei zu konterkarieren, etwa mit Implantaten an ihrer Stirn, die „Monstrosität und Hässlichkeit“ hervorrufen sollen, wie die Französin erklärt.
WEIT MEHR ALS ENTERTAINMENT
Dass Exzentrik in der Kunst viel mehr ist als ein bloßer Entertainment-Faktor und in vielen Fällen aufklärerischen Gedanken folgt, unterstreichen die Macher der Ausstellung „Eccentric. Ästhetik der Freiheit“, die noch bis April in der Pinakothek der Moderne in München zu sehen ist. „Exzentrik ist eine intellektuelle Haltung, die sich Ideologien jeglicher Art verweigert. Sie basiert auf der Freiheit des Denkens und Gestaltens und tritt damit für die Freiheit der Demokratie und des Humanismus ein“, heißt es in der Einführung zur Ausstellung. Erklimmt man die breite Betontreppe in den ersten Stock der Pinakothek, lässt gleich das Auftakt-Exponat, das Besuchende in neonviolettem Licht begrüßt, keinen Zweifel an der beschworenen Freiheit: „YES TO ALL“, lautet der Schriftzug, den die Schweizer Performance- und Objektkünstlerin Sylvie Fleury 2006 als Leuchtstoffröhre anfertigen ließ. Vorbei an einem großformatigen Acrylgemälde von Franz Gertsch (1930–2022), das den Rock-’n’-Roll-Freigeist Patti Smith von hinten vor Gitarrenverstärkern zeigt, geht es in den größten Raum der Ausstellung. Dort tummeln sich allerlei verrückte Kreaturen: Gefederte Polarbären stehen mitten im Raum neben grellfarbenen Schneewittchen-Zwergen, von der Decke baumelt ein Krokodil. Auch die Gemälde an den Wänden decken eine breite Palette seltsamer Wesen ab und so hängt die pferdeartige „Windsbraut II“ von Max Ernst (1891–1976) direkt neben zwei martialischen Gemälden von Jonathan Meese, auf denen tiefschwarze Dämonenfiguren auf weißem Hintergrund Parolen verkünden.
Was exzentrische Kunst, wie sie in München gezeigt wird, als gemeinsamen Nenner hat, ist laut Bernhart Schwenk, Ausstellungskurator und Sammlungsleiter der Pinakothek der Moderne, ein gewisser katalysatorischer Effekt: „Ventile, Durchbrüche und Ausflüchte sind wahnsinnig wichtig für eine Gesellschaft und sie werden häufig von exzentrischen Persönlichkeiten vorangetrieben“, sagt Schwenk in der ARTE-Dokumentation. „Eine Welt ohne Exzentrik wäre genauso nutz- und fruchtlos wie eine Welt ohne Kunst.“
Was jedoch, wenn Exzentrik zur Normalität wird? Diese Frage stellt Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, und gibt zu bedenken: Die Endlichkeit der Sensation verkörpere für Künstlerinnen und Künstler auch eine Art Bedrohung. „Unsere Zeit hält offensichtlich ein unerschöpfliches Reservoir an ‚exzentrischen‘ Positionen bereit, die, und das ist das Überraschende, ein nie dagewesenes Maß an Beliebtheit und Zustimmung genießen. In der Musik etwa begeistern flamboyante Stars wie Lady Gaga oder Nicki Minaj mit hochartifiziellen Kunstfiguren und einer lustvoll ausgelebten Ambivalenz die Massen“, so Maaz. Soziale Medien wie Instagram täten ihr Übriges, denn in puncto Komik, Körperlichkeit, Schönheit und Niedlichkeit könnten Posts gar nicht übersteigert genug sein. Maaz schlussfolgert: „Exzentrik ist keine Entscheidung, sondern kann als eine Art Berufung angesehen werden, als ein innerer Kompass.“ Dieser zeige immer Richtung Freiheit – und findet damit immer neue Wege.