We Are Family“, singen Sister Sledge 1979, es ist die große Hymne der ausgehenden Disco-Ära: „We are family / I got all my sisters with me / We are family / Get up everybody and sing“. Sister Sledge sind vier Schwestern, Kim, Debbie, Joni und Kathy Sledge, sie kommen aus Philadelphia und haben ihre Karriere als Gospelsängerinnen begonnen. Ende der 1970er Jahre verpassen ihnen Bernard Edwards und Nile Rodgers von der Gruppe Chic einen neuen Sound, eine euphorische, den Hintern ebenso wie das Bewusstsein kickende Mischung aus Disco, Funk und Soul. Die Schwestern beschwören ihren familiären Zusammenhalt, und sie wollen, dass alle, die ihnen zuhören und zu ihrer Musik tanzen, sich auch wie eine Familie fühlen.
„We Are Family“ – was für ein perfekter Song! Man könnte sagen: ein Song, der die große Utopie des Pop in vier Minuten verdichtet. Großer Pop wollte ja immer, dass die Menschen sich in der gemeinsamen Liebe zu einer Musik, zu einem Song, einem Beat als Gleichgesinnte erkennen und zu einer Familie verbinden – über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg, über alles, was die Menschen trennt. Lasst uns Brüder und Schwestern werden! Großer Pop besaß immer schon einen sozialistischen Drive. Darum war die Familie für ihn immer wichtig – als symbolische Verbindung zwischen sonst fremden Menschen. Aber auch ganz konkret: als Einheit der Produktion; als Safe Space, in dem Menschen sich zusammenfinden, um das Leben mit ihrer Kunst für einen Moment leichter werden zu lassen.
Familien sind wesentlich für den Pop. Brüder und Schwestern sind wesentlich für den Pop. Man könnte sogar sagen: Die Geschichte der Popmusik, wie wir sie kennen, beginnt mit der Musik von Geschwistern. Zum Beispiel mit den Brox Sisters, drei Schwestern aus Memphis, die Anfang der 1920er Jahre am Broadway zur ersten erfolgreichen Girlgroup aufsteigen. Sie singen Lieder des Komponisten Irving Berlin und treten in seinem „Music Box“-Revuetheater auf; ihre drei Stimmen klingen wie eine, sie wirken wie die glücklichsten, harmonischsten Schwestern, die man sich vorstellen kann. Ihr Erfolg motiviert weitere Trios: Die Boswell Sisters aus New Orleans werden Anfang der 1930er Jahre zur erfolgreichsten Vocal-Jazz-Gruppe ihrer Zeit. Sie inspirieren die Andrews Sisters, die mit „Bei mir bist du schoen“ einen Jahrhundert-Hit landen – aufgegriffen wiederum von den zwei Barry Sisters, die Swing- und Jazz-Songs auf Jiddisch darbieten. Die Barry-Familie heißt eigentlich Bagelman. Wie sie kommen viele der frühen US-amerikanischen Pop-Schwesterngruppen aus Migrantenfamilien der ersten oder zweiten Generation: Der geschwisterliche Zusammenhalt, den sie künstlerisch demonstrieren, soll auch ein Zeichen der Sicherheit geben in einer fremden, oft feindlichen Welt.
„We are family / I got all my sisters with me“: Die Schwestern bilden die Avantgarde, aber die ersten Gruppen von Brüdern folgen ihnen schnell. Die ersten sind die vier Mills Brothers aus Ohio, die ihre Karriere Ende der 1920er Jahre beginnen. Ihr Vater betreibt einen Barbershop, und er singt in einem Barbershop Quartett: So nennt man seit Ende des 19. Jahrhunderts Gesangsgruppen, die a cappella, also ohne Instrumentalbegleitung, singen. Die Mills Brothers übernehmen den Stil ihres Vaters, aber beginnen auch damit, die fehlenden Instrumente lautmalerisch nachzuarbeiten. Das Publikum ist begeistert: Als erstes afroamerikanisches Ensemble erhalten die Mills Brothers 1930 eine eigene Radioshow; ihre Popularität hält bis in die 1950er. Zu ihren gelehrigsten Schülern in der Nachkriegszeit gehören zwei weiße Brüder, Don und Phil Everly. Diese werden als Everly Brothers zu einer der erfolgreichsten Bands ihrer Generation, mit romantisch-melancholischen Titeln wie „All I Have To Dream“ singen sie sich vor allem in die Herzen der Teenager-Mädchen der Zeit. Und geben mit ihren ausgefeilten Vokalharmonien wiederum das Vorbild für eine Band von Brüdern, die im folgenden Jahrzehnt den US-amerikanischen Pop wesentlich prägen wird: The Beach Boys.
1961 gründen Brian, Dennis und Carl Wilson die Band gemeinsam mit ihrem Cousin Mike Love. Sie kommen von der Westküste Kaliforniens und präsentieren sich als sorgenlose, sonnengebräunte Strandjungen; sie singen mit ihren hellen Stimmen von „Fun, Fun, Fun“, „Surfin’ USA“ und von den „California Girls“. Ihre Harmonien sind heiter, manchmal himmlisch, aber sie werden schnell immer komplexer: Der kompositorische Kopf und Klangdirektor der Gruppe, Brian Wilson, will aus dem schlichten Pop der Anfangstage etwas Ambitioniertes, Avantgardistisches erschaffen. Er sieht sich vor allem in Konkurrenz zu den Beatles – einer britischen Boygroup, die ihre Harmonien bei den Everly Brothers entliehen hat und wenigstens am Anfang mit ihren uniformen Anzügen und Frisuren auch wie Geschwister auftritt: Geschwister im Geiste. Als die Beatles sich dem Konzeptpop zuwenden, versucht Brian Wilson ihnen immer entschiedener den Rang abzulaufen. Mit dem Album „Pet Sounds“ gelingt den Beach Boys 1966 unter seiner Führung ein Meisterwerk und mit dem dazugehörigen Song „Good Vibrations“ ein Millionen-Hit. Doch die anderen Brüder und vor allem Mike Love finden das alles bald zu verstiegen; im folgenden Jahr weigern sie sich, die noch mal ambitionierteren Songs des von Brian Wilson geplanten Konzeptalbums „Smile“ mit ihm aufzunehmen, und drängen ihn, während er gleichzeitig in Drogenabhängigkeit und Psychosen versinkt, aus der Band.
Brother and sister together we’ll make it through
So werden die Beach Boys zum ersten und bis heute exemplarischen Fall einer dysfunktionalen Geschwisterband. Wo die singenden Brüder und Schwestern der 1930er bis 1950er Jahre unbedingte Harmonie symbolisieren – vor allem gegenüber der Außenwelt –, dort brechen unter den gesanglichen Harmonien der Wilson-Brüder jene Konflikte auf, von denen Familien auch schon immer geprägt waren: Uneinigkeit, Absetzbewegungen von der verordneten Eintracht. Und von den übermächtigen Eltern. Die erfolgreichste Brüderband, die in den frühen 1970ern auf die Beach Boys folgt, sind die Jackson 5, gegründet 1964 in Gary, Indiana, von dem ambitionierten Vater Joe Jackson. Er trimmt seine Söhne Jackie, Tito, Jermaine, Marlon und Michael zu einem singenden und tanzenden Power-Quintett. 1969 gelingt seinen Jungs mit dem Album „Diana Ross Presents the Jackson 5“ der Durchbruch: Sie werden zur ersten afroamerikanischen Boygroup, die auch vom weißen Publikum angenommen und gehört wird. Doch überschreiten sie den Zenit ihres Erfolgs schnell – während sich der jüngste der Brüder, Michael, zum Ende der 1970er als Solokünstler und schließlich Superstar etabliert. Mit „Thriller“ gelingt ihm 1982 das bis heute meistverkaufte Album der Pop-Geschichte. Heute wissen wir, dass Michael Jacksons gesamtes Leben von den traumatischen Prägungen durch seinen autoritären Vater bestimmt worden ist, vom Raub der Kindheit in der gedrillten Brüdergruppe und auch: vom späteren Neid der weniger erfolgreichen Jacksons auf seine Karriere.
Für musizierende Brüder ist es offenkundig gesünder, wenn der Vater in ihrem Leben keine besondere Rolle spielt. So ist es jedenfalls im Fall von Angus und Malcolm Young, die, in Schottland geboren, Mitte der 1960er Jahre mit ihren Eltern nach Australien ausgewandert sind. Dort gründen sie 1973 die Band AC/DC. Angus spielt Leadgitarre und kleidet sich für seine Bühnenauftritte in eine Schuluniform; sein Bruder Malcolm begleitet ihn an der Rhythmusgitarre und trägt ver-gleichsweise unauffällige Kombinationen aus schwarzen Jeans und schwarzen Muskel-Shirts. Die Gebrüder Young scharen ein paar örtliche Musiker um sich, unter anderem den ursprünglich ebenfalls aus Schottland stammenden Rock ’n’ Roll-Sänger Bon Scott, und nehmen mit ihnen einige der erfolgreichsten Alben der Hardrock-Geschichte auf. Noch erfolgreicher werden sie erst, als sie nach dem Tod von Bon Scott 1980 mit dem neuen Sänger Brian Johnson weitermachen: Ihr erstes Album mit ihm, „Back in Black“, wird zur zweitmeistverkauften Pop-Platte der Geschichte – eben nach „Thriller“ von Michael Jackson.
AC/DC sind Punk, bevor es Punk gab – so hat es ein Kritiker einmal formuliert. Tatsächlich gründet sich eine der ersten prägenden Punk-Gruppen wenig mehr als ein Jahr nach AC/DC: The Ramones treten erstmals 1974 im Club CBGB in New York City auf. Ihr primitiver Rock ist noch primitiver als jener von den australischen Kollegen, und er ist ironischer und postmoderner. Was sich auch daran zeigt, dass The Ramones als Brüder auftreten, obwohl sie gar keine sind: Sie nennen sich Joey, Johnny, Dee Dee und Tommy Ramone. Aber in Wahrheit heißen sie anders und stammen aus unterschiedlichen Familien. Sie erklären sich bloß zu Geschwistern, um aus ihrer biologischen Identität in eine neue, künstliche Identität hinüberzuwechseln. Sie machen sich zu einer Familie, um sich gegen eine als entfremdet empfundene Welt zu wappnen – nicht unähnlich den frühen Geschwistergruppen der 1930er Jahre, etwa den Barry Sisters. Wie diese sind Joey und Tommy von jüdischer Herkunft, während Johnny und Dee Dee katholische Jungs sind. Doch in dieser – nun im positiven Sinne des Punk – dysfunktionalen Familie kommen alle gut miteinander aus.
Im Gegensatz zu den bekanntesten dysfunktionalen Geschwistern der 1990er, 2000er und auch noch 2010er Jahre: Die Gebrüder Liam und Noel Gallagher schreiben am Beginn ihrer musikalischen Karriere mit der Gruppe Oasis eine Weile lang interessante Songs – jedenfalls für alle interessant, die sich für Retro-Gitarrenrock mit pathetisch aufgeplusterten Männlichkeitsposen begeistern. Danach und über die längste Zeit ihres öffentlichen Auftretens seither machen sie vor allem dadurch auf sich aufmerksam, dass sie schlecht übereinander reden, das Talent des jeweils anderen Bruders anzweifeln und es jeder für sich ausschließen, dass sie jemals wieder miteinander auftreten werden. Musikalisch weitaus innovativer sind dagegen zwei Schwestern, die ebenfalls in den 1990er Jahren zu musizieren beginnen: Beyoncé und Solange Knowles. Erstere beginnt ihre Karriere in der Girlgroup Destiny’s Child, reüssiert in den 2000ern als Königin eines gleichermaßen massenbegeisternden und wie avantgardistisch orientierten R ’n’ B – bevor sie 2022 ihren Ruf riskiert, indem sie für ihr Album „Renaissance“ erst die queere Subkultur der 1980er-House-Music kopiert und dann beim ersten Konzert mit diesem Sound im krass schwulenfeindlichen Dubai Millionen scheffelt. So etwas wäre ihrer jüngeren Schwester nie passiert: Mit Alben wie „A Seat At The Table“ ist Solange Knowles zu einer der klügsten und politischsten Stimmen im Pop der Gegenwart geworden. Sie hat sich aus dem Schatten ihrer älteren Schwester befreit und ist längst die weitaus größere Künstlerin als diese. Aber es würde ihr nie einfallen, schlecht über Beyoncé zu reden: They are family.
Zur Person:
Jens Balzer zählt zu Deutschlands führenden Pop-Experten. Er schreibt regelmäßig für Die Zeit, den Rolling Stone und veröffentlicht Bücher, darunter „Ethik der Appropriation“ (2022).