Herrlicher Himmelsbau

GOTTESHÄUSER Über Jahrhunderte arbeiteten unzählige Generationen an ihnen, Dichter priesen ihre Schönheit. Massive romanische und filigrane gotische Kathedralen sind erhabene Zeugnisse europäischer Kultur.

Feine Spitze: 116 Meter ragt das Freiburger Münster mit verspieltem Maßwerk in die Höhe (Foto: Elisabeth Schmitt/getty images)

Bis heute ist uns die Kathedrale ein Mysterium. Wie Edelsteine funkeln die Fenster, das Licht aus ihnen taucht die weiten Hallen in geheimnisvolle Farbigkeit. Die Besucher, gläubig oder nicht, scheinen wie auf Zehenspitzen zu gehen, als fürchteten sie, mit jedem Tritt das Göttliche, Wundersame zu verletzen. Niemand, der sie im modernen Sinn als materielles Werk ansieht, wird diese Architektur verstehen. Sie ist getränkt mit Symbolik. Schon die romanische Kathedrale war von Anfang an mehr als eine Kirche. Wenn wir in sie eintreten, stehen wir in der Heiligen Stadt.

Jede einzelne dieser Kirchen ist ihrer Idee nach das Heilige Jerusalem, das Heilige Römische Reich, der Ort, an dem Christi Wiederkehr erwartet wird. Vordergründig imitierte der Baustil der Romanik mit seiner Strenge, seinen dicken Mauern den Burgenbau, wie die ARTE-­Geschichtsdoku „Wettstreit der Kathedralen“ zeigt. Tatsächlich waren die Gotteshäuser schon zu Zeiten der ersten Kaiser viel mehr als Zweckbauten, nämlich Reichsbauten, Himmelsbauten, Stätten, wo aus dunkler Tiefe Erlösung heraufleuchtet. „Wir bauen an Dir mit zitternden Händen, Du Dom“, dichtete ­Rainer ­Maria ­Rilke auch noch im 20. Jahrhundert voller Demut, und er meinte damit die Sehnsucht nach überirdischer Vollkommenheit, die der Kathedralbau thematisiert.

Wettstreit der Kathedralen

2-tlg. Geschichtsdoku

Samstag, 26.12. • ab 20.15 Uhr
bis 25.3.2021 in der Mediathek

Baumeister: Wie er wirklich aussah, lässt sich nur erahnen. Erwin von Steinbach (1244–1318), hier eine Illustration von 1900, entwarf die Westfassade des Straßburger Münsters mit ihrer imposanten Fensterrose. Auch der Münsterturm in Freiburg gilt als Werk des Hochgotik-Meisters (Foto: Ken Welsh/dpa)

Goethes gotisches Erweckungserlebnis
Aber wie erst wird diese Vergeistigung des Bauwerks in der gotischen Kathedrale zelebriert! Auch hier ist es ein Dichter, der sich Jahrhunderte später vor ihr verneigt wie noch keiner vor ihm: der junge Goethe. Noch eben war er, so schreibt er, von Verachtung für die „krausborstigen Ungeheuer“ der Gotik erfüllt, da steht er vor dem Straßburger Münster und fühlt sich wie vor einem „hocherhabenen, weitverbreiteten Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern wie der Sand am Meer, ringsum, der Gegend verkündet die Herrlichkeit des Herrn seines Meisters“. Was so hymnisch aus dem jungen Dichter herausbricht, war mehr als Enthusiasmus; es war ein Erweckungserlebnis, das er bald mit vielen Nachfolgenden teilen sollte. Es entflammte wie ein Funke das ganze 19. Jahrhundert für eine Bauart, die nun plötzlich erneut zum prägenden Stil für den Kirchenbau in ganz Europa werden sollte.

Nun erst wurden die unfertigen Kathedralen vollendet und fanden den Platz, den sie bis heute einnehmen: in der Mitte nicht nur einer Epoche oder eines Landes, sondern eines Kontinents. In ihnen verkörpern sich wie in keinem anderen Bautyp Idee und Anspruch von Europa. Wer nach dem Inbegriff Ägyptens und ägyptischer Kunst sucht, wird sich schnell vor den Pyramiden wiederfinden. Wer den Geist Europas ergründen möchte, steht ergriffen vor seinen Kathedralen. Und es ist nicht nur der Schauer vor der Größe der Idee, der fast unheimlichen Vollkommenheit der Technik, der Beherrschung und Überdehnung der physikalischen Gesetze, der ihn überkommt. Sondern etwas noch viel Mitreißenderes, Unerklärlicheres: das Staunen über die Verwandlung der Steinmassen und der Schwerkraft in atmende Spiritualität.

Wie Goethe haben unzählige große Geister von dieser Wirkung gesprochen, unter ihnen auch der junge Karl ­Friedrich ­Schinkel. Ehe er auch nur ein einziges Bauwerk errichtet hatte, drückte er seine Faszination in Gemälden aus. Über erträumten Landschaften thronen majestätische Dome, in deren Schatten Könige und Ritter in feierlichen Prozessionen ziehen. In späten Aufzeichnungen versuchte der Architekt, der hehren Aufgabe ein konkretes Bauprogramm zuzuordnen: „Im religiösen Gebäude soll Gott dargestellt werden.“ Und fügt gleich hinzu: „ Dies ist nicht anders möglich als durch das Universum …“

Wie die unerhörte Idee, in einem Bauwerk das Universum Gestalt werden zu lassen, auszuführen sei, dazu wagte ­Schinkel eine Deutung, die man heute vielleicht wie die Enthüllung des geheimen Plans der gotischen Kathedrale lesen kann: „Das ganze Untere, dem Auge Nächste sei einfach und roher Stoff, der immer mehr und mehr sich gestaltet in unendliche mannigfache Formen, die das Leben und Streben zur Gottheit hin andeuten. Oben greift alles durcheinander ein und bildet ein großes Gewölbe durchsichtiger Natur, wo alles mit religiösen Bildern gemalt ist. Musikchöre in die Formen gewebt.“ Erst, wer diese Chöre wirklich hört, mag ahnen, wovon die Steine singen und reden.