»Lebendige Erinnerung«

In „Golda Maria“ erzählt eine Holocaust-Überlebende von dem Grauen der NS-Zeit und dem Versuch, trotz allem ein glückliches Leben zu führen. Ein Gespräch mit ihrem Enkel und Filmemacher Patrick Sobelman.

Gedenken: Das Holocaust- Mahnmal in der historischen Mitte Berlins
Gedenken: Das Holocaust- Mahnmal in der historischen Mitte Berlins erinnert die nachfolgenden Generationen an die Verbrechen der Nazizeit. Foto: Christoph-Hardt_Geisler-Photopress_picture-alliance

Wie schafften es Jüdinnen und Juden, nach dem Holocaust weiterzuleben? Und wie prägten diese grauenhaften Erfahrungen die nächsten Generationen? Diese Fragen trieben den Filmemacher ­Patrick ­Sobelman an, als er über drei Tage hinweg Gespräche mit seiner damals 84-jährigen Großmutter Golda Maria Tondovska führte und mit einer Kamera aufzeichnete. Zum ersten Mal erzählte sie ihm von ihrem Martyrium in den Konzentrationslagern von Bergen-Belsen und Auschwitz-­Birkenau, aber auch von der Freiheit, die sie in den Nachkriegsjahren in Paris erlebte. Mit dem ARTE Magazin spricht Sobelman darüber, wie die gemeinsame Arbeit an dem Film seine Familie verändert hat und warum er es gerade heute für elementar hält, die Erinnerungen der Zeitzeugen zu bewahren.

Golda Maria

Dokumentarfilm

Dienstag, 23.1. — 22.45 Uhr
bis 21.2. in der Mediathek

ARTE Magazin Herr Sobelman, Sie haben sich 1994 dafür entschieden, die Geschichte Ihrer Großmutter filmisch festzuhalten. Wie kamen Sie auf die Idee? 

Patrick Sobelman Ich hatte in den Jahren davor lange an einem Film über den NS-Terror gearbeitet. Erst durch diese Erfahrung habe ich angefangen, mich mit meiner eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen, und mir wurde klar, dass ich mit damals 44 Jahren nicht ein einziges Mal mit meiner Großmutter über die Zeit der Shoah gesprochen hatte. Also haben wir uns dafür in ihrem Pariser Apartment verabredet. Die Kamera ließ ich nur laufen, um alles für meine Kinder aufzuzeichnen. Für die Öffentlichkeit waren diese Aufnahmen damals nicht gedacht. Die Gespräche waren sehr emotional und wir beide danach für Tage erschöpft.

ARTE Magazin In vielen Familien wird über die Erlebnisse der Menschen in der NS-Zeit kaum gesprochen. Wie haben Sie es geschafft, dass Ihre Großmutter sich Ihnen anvertrauen wollte?

Patrick Sobelman Wie bei vielen Menschen, die ich kennengelernt habe, gab es bei meiner Großmutter am Ende ihres Lebens den Wunsch, den nachfolgenden Generationen etwas mitzugeben. Damit sich die Geschichte niemals wiederholt. Wir haben also gemeinsam ihren Lebensweg rekapituliert – stockend und fragmentarisch, so wie Erinnerungsprozesse eben ablaufen. Langsam sind wir immer tiefer vorgedrungen: Meine Großmutter wuchs als Tochter einer polnisch-­jüdischen Familie in Berlin auf und floh 1933 nach Paris. Sie hat mir vom Leben im besetzten Frankreich erzählt, von der Deportation und der Zeit in den Konzentrationslagern. Auf dem Weg dorthin hat sie einen Sohn verloren. Das war wohl ihre schmerzhafteste Erinnerung. Sie hat das Bild dieses Jungen, ­Robert, immer in sich getragen. Es hat ihr Kraft gegeben, um nach Kriegsende in ihr geliebtes Paris zurückzukehren.

ARTE Magazin Im Jahre 2019 haben Sie sich dann doch entschlossen, den Film für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie kam es dazu?

Patrick Sobelman Bereits nach dem Tod von ­Golda ­Maria im Jahr 2010 wurde mir bewusst, dass ihre Lebensgeschichte eine sehr starke, universelle Botschaft transportiert, die ich nicht einfach für mich behalten darf. Um ehrlich zu sein, brauchte es dann auch noch einen kräftigen Schubs von meiner Frau und meinen Kollegen. Gemeinsam mit meinem ältesten Sohn Hugo, der damals gerade damit begonnen hatte, Dokumentarfilme zu drehen, habe ich das gut achtstündige Material zu einem Film montiert. Eine Arbeit, die uns zusammengeschweißt hat.

 

Patrick Sobelman, Filmproduzent Berlinale
Patrick Sobelman, Filmproduzent: Der französische Filmemacher (l.) hatte den Film „Golda Maria“ (2020) über zwei Jahrzehnte in der Schublade, bevor er ihn mit seinem Sohn ­Hugo (r.) auf der ­Berlinale 2020 präsentierte. Foto: Berlinale

ARTE Magazin Wie lief ihr familiäres Teamwork konkret ab?

Patrick Sobelman Hugo hat das Archivmaterial herausgesucht, das im Film eingeblendet wird, um die erwähnten historischen Bezüge besser zu erklären. Mir war vorher gar nicht so bewusst, dass das nötig sein könnte, aber er machte mir klar, dass es den Film viel verständlicher macht. Auch die Klezmer-­Klänge, die man im Hintergrund hört, hat ­Hugo ausgewählt. Und mein jüngster Sohn spielt die – zugegeben – etwas schiefe Klarinettenmelodie im Abspann.

arte magazin Aktuell sehen wir, insbesondere vor dem Hintergrund des eskalierten Israel-Palästina-Konflikts, dass antisemitische Narrative wieder an Zuspruch gewinnen. Reden Sie mit Ihrer Familie über diese Entwicklungen?

Patrick Sobelman Ja, der brutale Krieg im Nahen Osten beschäftigt uns alle sehr. Aus meiner Sicht hat der erstarkende Antisemitismus auch deshalb eine Chance, weil sehr viele junge Menschen nur noch wenig Bezug zu den Geschichten ihrer Großeltern haben. Es sind kaum noch Zeitzeugen am Leben. Wir sind also als Gesellschaft gefordert, uns zu überlegen, wie eine neue Erinnerungskultur aussehen könnte.

ARTE Magazin Haben Sie einen Vorschlag?

Patrick Sobelman Ganz wichtig ist es, den jungen Menschen diese Zeit nicht nur intellektuell, sondern auch emotional nahezubringen. Das geht am besten über Geschichten, Filme, Texte und viele Gespräche. Wir müssen die Erinnerung lebendig halten.

ARTE Magazin Gab es einen Aspekt an der Biografie Ihrer Großmutter, der Sie besonders beeindruckt hat?

Patrick Sobelman Meine Großmutter hat die Gewalt und die Verluste, die sie erfahren hat, mit sich herumgetragen und es trotz allem geschafft, sich ein glückliches Leben aufzubauen. Sie war eine sehr liebevolle und warmherzige Frau, gerade gegenüber uns Kindern – ich erinnere mich gut daran, dass ihre Taschen immer voller Bonbons waren. Diese Gleichzeitigkeit hat mich fasziniert. ­Golda ­Maria hat mir erzählt, dass die Liebe zu ihrer Familie sie gerettet hat. Für sie waren ihre vielen Enkelkinder immer auch ein Symbol für eine Zukunft voller Hoffnung.