Hütet die Hirten

Ob in Peru, Indien oder Brandenburg: Überall auf der Welt kämpfen Hirten ums Überleben. Ihr teils nomadisches Leben gilt als rückständig, dabei sind sie wichtige Ökosystemdienstleister.

Foto: Mark Michel/ARTE

Es war wie eine Zeitreise, die ihn Jahrhunderte zurückführte: Für die ARTE-Dokureihe „Hüter der Erde“ zog Regisseur Mark ­Michel an vielen Orten der Welt mit Hirten und ihren Tieren durch karge Landschaften voll rauer Schönheit, immer auf der Suche nach Weideland und Wasser. Überrascht stellte er fest: Ob im Hochgebirge Kirgistans, den Trockensavannen Ugandas, in den Halbwüsten von Rajasthan, in den Anden Perus oder aber in Brandenburg – Arbeit und Lebensweise von Hirten gleichen sich überall. Doch Klimawandel, Urbanisierung und mangelnde politische Anerkennung bedrohen die Hirten. Im Interview erläutert der Regisseur, wieso ihr uraltes Wissen für eine nachhaltige Zukunft von großem Nutzen sein kann.

Seit jeher bestimmen die Jahreszeiten und das Wetter das Leben der Hirten. Heute müssen sich die Tierhüter zunehmend weiteren Herausforderungen widmen: In Indien sollen die Raika-Hirten einem Nationalpark weichen. Foto: Mark Michel/ARTE

Hüter der Erde

5-tlg. Dokureihe

ab Montag, 1.2. — 17.20 Uhr
je 90 Tage verfügbar in der Mediathek

arte magazin Herr Michel, was ist dran an der romantischen Vorstellung vom idyllischen Hirtendasein?
Mark Michel Viele haben dieses Bild vom einsamen Schafshirten vor Augen, der irgendwo im Grünen steht und seinen Tieren beim Fressen zuschaut. In der Realität ist das aber ein knochenharter Fulltime-Job. Die Hirten, die wir besucht haben, haben nie frei, müssen sich rund um die Uhr um ihre Tiere kümmern. Zudem müssen sie Wege finden, wie sie ihre Produkte zu Geld machen können.

arte magazin Gibt es außer dem harten Arbeitsalltag etwas, das die Hirtenvölker weltweit verbindet?
Mark Michel Die große Gemeinsamkeit ist die innige Verbundenheit mit der Natur und mit den Tieren. Überall achten die Hirten gleichermaßen auf die Gegebenheiten um sich herum. Sie schauen, wie saftig das Gras an einem Ort ist, und entscheiden dann, wie lange sie ihre Tiere dort weiden lassen können, ohne der Natur zu schaden. Außerdem gibt es in allen Ländern jahrtausendealte Traditionen.

Der freie Filmemacher und Autor Mark Michel studierte Soziologie und Internationale Politik in Jena, Bath und Toronto sowie Visuelle Kommunikation an der Bauhaus-­Universität in Weimar. Ein Fokus seiner Arbeit ist das Thema Inklusion. Foto: Privat

arte magazin Weshalb sind diese Traditionen in Gefahr?
Mark Michel Einerseits kämpfen die Hirten mit den Folgen des Klimawandels. Sei es, weil kein Regen fällt und die Flüsse austrocknen oder weil die Temperaturen steigen und neue Tierseuchen ausbrechen. Außerdem werden die Hirtengemeinschaften weltweit aus ihren Lebensräumen verdrängt. In Europa ist die Gesetzgebung nicht für das Hirtentum ausgelegt, sondern für die industrielle Landwirtschaft. Auch in Ländern wie Uganda und Indien, wo die Bevölkerung rasant wächst, nehmen Verstädterung und Ackerbau zu. Es gibt dort Großkonzerne, die sich das Land unter den Nagel reißen. In Ra-jasthan, Indien, will die Regierung einen großen Nationalpark mit Tigern bauen, um Touristen anzulocken. Die Kamelhirten dürfen dann nicht mehr auf dieses Land – dabei sind sie es, die diese Landschaft über Jahrhunderte geprägt haben. Sie werden nun zur Folklore degradiert: Sie verkleiden ihre Kamele und lassen westliche Touristen auf ihnen reiten.

arte magazin Hat die Hirtenkultur denn überhaupt einen Platz in der heutigen Zeit?
Mark Michel Mehr als das – sie ist sogar zukunftsweisend! Hirten kommen komplett ohne fossile Brennstoffe aus. Sie brauchen keine Traktoren, keine Mähdrescher und auch keine Unmengen an Sojatierfutter oder zerriebenem Tiermehl, um ihre Tiere zu füttern. Stattdessen nutzen sie das, was vor Ort verfügbar ist – und zwar auf eine umweltschonende und nachhaltige Weise, die zum Erhalt der jeweiligen Ökosysteme beiträgt und Böden sogar aufbaut.

arte magazin Wie macht sich das bemerkbar?
Mark Michel Man sieht das im Hinblick auf die Biodiversität. In Europa ist die Artenvielfalt dort am größten, wo Hirten noch mit ihren Schafen entlangziehen. Durch ihre Art der Beweidung wird das Pflanzenwachstum angeregt. Die industrielle Landwirtschaft saugt hingegen alles aus den Böden heraus – bis auf den letzten Rest. Die Böden verdorren, Insekten und andere Arten sterben aus.

arte magazin Aber die Weltbevölkerung lässt sich so doch kaum ernähren, oder?
Mark Michel Aus europäischer Sicht mag es überraschen, wie viele Menschen in anderen Teilen der Erde vom Hirtentum leben. Weltweit gibt es mehrere Millionen Hirten, sie tragen enorm zur Ernährungssicherheit bei. Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen hat kürzlich verkündet, dass das Hirtentum eine der drei Säulen ist, die zu einer grünen Ökonomie führen sollen. Das Hirtentum ist kein rückständiges Lebensmodell. Es hält jahrhundertealte Lösungen bereit, die uns zeigen, wie wir die Umwelt schonen können.