Wächterin der Ästhetik

Kaum jemand hat die Regisseure des Neuen Deutschen Kinos so beeinflusst wie Lotte Eisner. Volker Schlöndorff erinnert sich an die Grande Dame der Cinémathèque française in Paris.

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Unweit des Lycée Henri IV in Paris, wo ich 1958 Abitur gemacht hatte, lag in der Rue d’Ulm das Filminstitut Cinémathèque française. Damals war ich dort Stammgast. Drei Filme jeden Abend – im Grunde war das meine Lehrzeit. Am 17. Oktober 1958 etwa war um 18:30 Uhr „Metropolis“ zu sehen, am nächsten Tag „La Chienne“ von Jean ­Renoir, dann „L’Étoile de mer“ von Man Ray. Auch viele Stummfilme standen auf dem Programm, das so vielfältig war, dass man in einer Woche praktisch die Hälfte der Filmgeschichte kennenlernte.

Ebenso spannend war das Publikum. Es gab die Leute der Cahiers du Cinéma, die sich über alle anderen erhaben fühlten. Dann die Hohepriester der Filmgeschichte wie der Journalist Louis Marcorelles oder die Regisseure Jean-Luc ­Godard, ­Claude ­Chabrol und ­FranÇois ­Truffaut: Die schwarzen Mäntel eng geschlossen haltend saßen sie stets in der ersten Reihe. Später kamen Filmkritiker wie ­Michel ­Ciment hinzu. Die schwärmten für Stars wie ­Ava ­Gardner oder ­Louise ­Brooks. Auch die Freunde des Kinos an der Ecke MacMahon/Étoile verkehrten in der Cinéma­thèque.

Nach jedem Film fielen die verschiedenen Fraktionen mit unerbittlichen Urteilen übereinander her, bis ein beleibter Herr entweder schlichtete oder Öl ins Feuer goss: ­Henri ­Langlois, der Chef. Bald lernte ich ihn kennen, diesen Drachen, der über die Filmschätze wachte, und freundete mich sogleich mit ­Lotte ­Eisner an, seiner prominenten Chefkuratorin.

Ein Leben für den Film – Lotte Eisner

Porträt

Mittwoch, 24.2. — 21.50 Uhr
bis 24.2. in der Mediathek

Vis-à-vis mit den Filmgrössen von Paris
Eines Tages bot sie mir an, deutsche Filme fürs Publikum simultan zu übersetzen. Ich saß mit einem Mikrofon in der ersten Reihe und sprach die Dialoge oder Zwischentitel auf Französisch – so gut und schnell ich konnte. Fortan durfte ich alle Vorstellungen kostenlos besuchen. Wichtiger noch: Ich gehörte sozusagen zum Team, lernte dort ­Jean ­Renoir, ­Abel Ganz, Man Ray und viele andere Filmgrößen kennen. Auch Fritz Lang, den ­Eisner noch aus den 1920er Jahren in Berlin kannte, stellte sie mir vor. Der einschüchternde Meister mit dem Monokel lud mich sogar ein, ihn zu besuchen – was ich freilich tat.

Nachdem ich Eisners Buch „Die Dämonische Leinwand“ gelesen hatte, löcherte ich sie mit Fragen: Wie war es in Berlin in den 1920ern? Wie sind die Filmklassiker damals entstanden? Das interessierte mich brennend. ­Eisner erzählte gern von der Glanzzeit des deutschen Films. Sie lobte aber auch skandinavische Produktionen wie „­Gösta ­Berling“ (1924) oder „Der Sturm“ (1928) von ­Victor ­Sjöstrom: ein Stummfilm ohne Zwischentitel. Filme, die nur in Bildern erzählt wurden, waren ihr ohnehin die liebsten. Kein Wunder, dass sie ein paar Jahre später ­Werner ­Herzog entdeckte und schätzte. Wichtig war ihr vor allem die Stimmung des Films. Das war für sie ein ästhetischer Begriff, irgendwo zwischen ­Caspar ­David ­Friedrich und dem Clair Obscur, der aber nichts Romantisches hat, sondern etwas Verhängnisvolles. Der Mensch ist der Stimmung ausgeliefert; sie kann Schicksal bedeuten oder Schuld, Stärke oder Schwäche.

So wurde mir klar, dass sich aus französischer Perspektive die deutsche Kultur, nicht nur die Filmkultur, durch eine besondere Stimmung auszeichnet: ähnlich dem Geheimnisvollen, Unheimlichen in unseren Märchen, das ­Victor ­Hugo mit seiner Beschreibung der Burgen am Rhein und der dunklen Wälder beschworen hat. Diese spezifisch französische Sicht auf die deutsche Filmkultur war mir neu. Sie verdeutlichte den Unterschied zu sowjetischen Filmen, die viel härter, viel direkter waren, oder zu amerikanischen mit ihrem Matter-of-fact-­Realismus: Der Westernheld wird in eine Handlung verwickelt, und aus dem Kampf ergibt sich sein Schicksal. Die Stimmung ist da so unwichtig wie der Himmel über ihm.

Lotte Eisner hat mir die Augen geöffnet für das Spezifische an einer Kultur. Und wodurch es historisch bedingt sein kann. Stimmung gehörte für mich seitdem in die Zeit der Weimarer Republik und war durch die Nazis, die Bomben und den Krieg ausgelöscht worden. Mit meinem Erstling „Der junge Törless“ (1966) habe ich daher bewusst an den Stummfilm der Weimarer Zeit anknüpfen wollen. Der Film hat ­Eisner gut gefallen, sie hat ihn sogar Fritz Lang empfohlen und gesagt, anders als die anderen Jungen könne ich in Bildern erzählen. Mir allerdings war wichtig, dass es in dem Film nichts Dämonisches gab – eher die Banalität des Bösen.

Lotte Eisner zeigte mir, wie wichtig die Stimmung im Film ist

Volker Schlöndorff, Regisseur