»Ich wurde zum Adler«

Seit drei Jahrzehnten gilt Nigel Kennedy als der Punk der Klassikwelt. Jetzt hat der Geiger seine Memoiren geschrieben. ARTE zeigt seine denkwürdige Version der „Vier Jahreszeiten“.

Nigel Kennedys Aufnahme aus dem Jahr 1989 von Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ ist bis heute legendär: Mit Punkfrisur, schrillem Outfit und den Bewegungen eines Rockmusikers brach der Violinist mit den damaligen Konventionen des Klassikbetriebs. Foto: Carl Hyde/ZDF

Sein Buch habe er komplett handschriftlich verfasst, sagt Nigel Kennedy. Computer benutze er eigentlich nur, um Sport zu schauen. Und für Video-Interviews. Dass der Geiger ein großer Fußballfan ist, ist nicht zu übersehen: Während er in seiner Wahlheimat Polen in seinem Studio steht, trägt er ein Trikot des englischen Clubs ­Aston ­Villa, in der Hand eine Tasse Tee. Er lacht in die Kamera, seine Haare abstehend wie eh und je. Hinter ihm ein schwarzer Flügel, zwei Geigenkästen und Wände aus Holz. Weltberühmt wurde der 64-Jährige im Jahr 1989, als seine Aufnahme von ­Antonio ­Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ zum meistverkauften Klassikalbum aller Zeiten wurde. Mit dem ARTE Magazin spricht ­Kennedy über seinen Ruf als Punk-Geiger, sein „Bullshit-­Barometer“ und seine imaginären Gespräche mit ­Jimi ­Hendrix.

 

Der britische Geiger Nigel Kennedy pfeift auf Konventionen­ und setzt sich für Freiheit im Klassikbetrieb ein. In seinen Memoiren „Mein rebellisches Leben“ erinnert er sich an seine Kämpfe und Erfolge. Foto: Rankin/ZDF

Sternstunden der Musik: Nigel Kennedy & Die vier Jahreszeiten

Musikdoku

Sonntag, 10.4. — 18.15 Uhr  

bis 9.5. in der Mediathek

arte Magazin Mr. Kennedy, stimmt es, dass Sie vor vielen Jahren Ihren Konzertfrack auf dem Dach Ihres Hauses verbrannt haben? 

Nigel KennedyOh ja, eine fantastische Zeremonie! Drei Mal in meinem Leben habe ich Kleidungsstücke verbrannt: zuerst den Frack, dann ein schreckliches Hemd, das ich bei einem Fernsehauftritt mit Paul McCartney tragen musste, und ein David-­Beckham-Trikot, das mein Sohn von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte. In meinem Haus trägt niemand Klamotten von Manchester United, ohne Miete zahlen zu müssen! 

arte Magazin Sie tragen schon lange keine klas­sischen Anzüge mehr. Gefällt es Ihnen, als Punk-­Geiger bezeichnet zu werden? 

Nigel KennedyDieser Ruf hat mir in meiner Karriere sehr geholfen. Das fing in den 1980er Jahren an. Ich schaffte es, Leute zu erreichen, die bis dahin nichts mit klassischer Musik anfangen konnten. Ich selbst weiß, dass ich kein richtiger Punk bin – ich übe den ganzen Tag Geige! Aber durch meine Art habe ich die sozialen Strukturen, mit denen klassische Musik assoziiert wurde, aufgebrochen. Das meinten die Leute, glaube ich, als sie anfingen, mich „Punk-Geiger“ zu nennen. 

arte Magazin Bestimmt hatte es auch mit Ihren für den Klassikbereich ungewöhnlichen Outfits zu tun.

Nigel Kennedy Mit Sicherheit. Beim ersten Mal war das allerdings reiner Zufall.

 

Der sechsjährige ­Nigel Kennedy, damals Schüler von ­Yehudi ­Menuhin, vor einem seiner ersten Konzerte. Foto: Erich Auerbach/Getty Images

arte Magazin Inwiefern?

Nigel KennedyIch stellte vor einem Konzert in London fest, dass ich meinen Frack zu Hause vergessen hatte – den, den ich später verbrannte. Es war Sonntag und der einzige Ort, der offen hatte, war der Camden Market. Ich kaufte panisch extra nur schwarze Kleidung, allerdings waren überall Nieten und Sicherheitsnadeln zu sehen. Etwas anderes gab es nicht. Und dann passierte es: Das Publikum bedankte sich nach dem Konzert und sagte, ich würde die klassische Musik modernisieren.

arte Magazin Im Nachhinein betrachtet, sagen Sie, habe sich die klassische Musikwelt damals angefühlt wie eine Zwangsjacke. Deshalb galt es, sie zu verlassen – oder zu verändern. 

Nigel Kennedy Stellen Sie sich einen Stall voller Hühner vor, die alle dasselbe machen. Alle gackern und legen ihre Eier, Generation nach Generation nach Generation. Ich habe mir Flügel zugelegt und bin aus dem Stall geflogen. Und wurde zum Adler!

arte Magazin Insbesondere Ihre Aufnahme von ­Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ führte zu einem Hype um Ihre Person. Sollte ein Musiker wichtiger sein als die Musik, die er spielt? 

Nigel Kennedy Das ist ein sehr schmaler Grat. Als Interpret keinerlei Persönlichkeit zu haben oder zu zeigen, finde ich kriminell. Ein Verbrechen gegen die Spiritualität der Musik. Geiger wie ­Yehudi ­Menuhin, Fritz ­Kreisler oder ­Isaac Stern fanden in jeder Note einen geradezu brennenden Geist, was ihre Ausdrucksweise beim Spielen ausmachte und die Musik zum Leben erweckte. Deshalb wurden diese Musiker zu Legenden. Natürlich gibt es auch diejenigen, die aus anderen Gründen berühmt werden. Wenn ein Personenkult auf Kosten der Musik entsteht, ist das gefährlich. Diese gehypten „Oh, ich bin ständig im Fernsehen“-Musiker, bei denen alles superernst zu sein hat. Das ist auch kriminell. Man braucht eine Balance.  

 

Später wurde der Geiger durch seine spezielle Spielweise und seinen ungewöhnlichen Look weltberühmt. Ein Marken­zeichen: seine Punkfrisur. Foto: Mick Hutson/Redferns/Getty Images

arte Magazin Und die haben Sie? 

Nigel Kennedy Mittlerweile ja. Ich denke nicht, dass meine Person wichtiger ist als die Musik, die ich mache. Wissen Sie, wie beim Boxen oder Golfen – ich hasse Golfen – agiert man auch beim Geigespielen immer aus der Mitte heraus. Bei jemandem, der keinerlei Emotionen zeigt, ist es so, als würde er sein ganzes Gewicht aufs rechte Bein verlagern. Jemand, der nur mediengeil ist, steht zu weit links. Mein Gewicht liegt in der Mitte. Ich habe ein sehr sensibles Bull­shit-Barometer in mir – wenn in meiner Nähe Mist passiert, rieche ich ihn sofort und werde ihn los. So halte ich die Balance.

arte Magazin Musikalisch sind Sie divers aufgestellt – von ­Vivaldi, ­Beethoven und Bach bis hin zu ­Jimi ­Hendrix und Jazz. Als Crossover möchten Sie Ihre Musik aber nicht bezeichnen. Warum nicht? 

Nigel Kennedy Bei dem Wort „Crossover“ läuft es mir sofort kalt den Rücken herunter. Ich habe das Bild von jemandem in meinem Kopf, der einen Fluss überquert und sich auf der anderen Seite verirrt, weil er dort noch nie war. Und eigentlich auch keine Berechtigung hat, dort zu sein. Was soll das? Es braucht doch diese Schubladen, diese Grenzen nicht.

arte Magazin Sind Grenzen immer schlecht?

Nigel Kennedy Mein Leben lang habe ich gegen Genregrenzen angekämpft. Und gegen vermeintliche Regeln, die vorgeben, wie ein Stück oder Instrument gespielt werden sollte. Das ist alles Bull­shit. Aber natürlich gibt es auch Grenzen, die wichtig sind. Zum Beispiel, wenn es um Harmonien geht. Ich improvisiere viel – aber nur innerhalb der harmonischen Grenzen eines Stückes.

 

Kennedy bei einem Auftritt 1989. Foto: David Redfern/Redferns/Getty Images

In einem Boxring würde Bach Vivaldi k. o. schlagen

Nigel Kennedy, Geiger

arte Magazin Seit mehr als 30 Jahren denken die Menschen bei ­Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ an ­Nigel ­Kennedy.­ Haben Sie es satt, darüber zu reden?

Nigel Kennedy Nein, gar nicht. Also wenn mich ein Veranstalter bittet, „Die vier Jahreszeiten“ in einem Konzert zu spielen, dann denke ich schon: „Wow, wie originell!“. Aber die Musik selbst und meine Interpretation davon haben mir zum Erfolg verholfen. Und ich empfinde ­Vivaldis Komposition nach wie vor als frisch und lebendig, voller Energie. Außerdem ist es Barockmusik, das heißt, es gibt viel Raum für Improvisation. Und ich habe mein Leben der Improvisation gewidmet.

arte Magazin Sie sagten einmal, ­Vivaldi habe „leichtes Zeug“ geschrieben, das Menschen nebenbei beim Kaffeetrinken hören können. Klingt nicht gerade nach einem Kompliment.

Nigel Kennedy Es ist aber keine negative Wertung. Sagen wir mal so: Stünden Vivaldi und Bach in einem Boxring, würde Bach ­Vivaldi direkt in der ersten Runde k. o. schlagen. ­Vivaldi ist fantastisch, aber Bach ist einfach der Beste – spirituell auf einem ganz anderen Niveau. Ich spiele jeden Morgen mindestens eine Stunde lang Bach. Das ist gut für die Hände – denn Bach ist nicht einfach – und auch gut fürs geistige Wohlbefinden.

 

Kennedy bei einer Probe mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, um 2000. Foto: picture-alliance/AKG

 

arte Magazin Sie sind auch bekannt für Ihre Jimi-­Hendrix-­Interpretationen. Was gefällt Ihnen an seiner Musik? 

Nigel Kennedy Ein Komponist spricht mich dann an, wenn ich bei seiner Musik eine natürliche Affinität verspüre; wenn seine Musik durch mich hindurchfließt, ohne dass ich mich frage, wie er das wohl gemeint hat. So geht es mir bei ­Jimi ­Hendrix. Dabei versuche ich nicht, ihn zu imitieren – das würde eh kaum jemand schaffen. Aber ich finde, die Violine wirft ein besonderes Licht auf seine wunderbaren Melodien und Harmonien. Zudem kannte auch er keine Genregrenzen. Ich glaube, hätte er länger gelebt, wäre er in eine orchestrale Richtung gegangen. Es gibt sogar ein Foto von ihm, auf dem er versucht, Geige zu spielen. Allerdings hätte er da als Linkshänder erst mal sehr viel üben müssen.

arte Magazin In Ihrem Buch führen Sie eine imaginäre Unterhaltung mit Jimi Hendrix, in der er Sie als „Geiger mit dem Empfinden eines Gitarristen“ beschreibt. Was heißt das?

Nigel KennedyIch habe wirklich das Gefühl, mich mit Jimi auszutauschen, wenn ich seine Musik spiele. Und es fühlt sich so an, als hätte er das zu mir gesagt. Ich war schon immer körperlich stärker involviert beim Spielen als andere Geiger. Eben wie ein Rock- oder Blues-­Gitarrist. Ich laufe auf der Bühne herum, kommuniziere mit den anderen Musikern. Und ich spiele keine wohltemperierte Geige, wenn ich Jazz, Blues oder Rock mache. Ich werde dann zum Jazz-Geiger, zum Blues-Geiger, zum Rock-Geiger!