Ein Polizist, der nicht schlafen kann, hat viel Zeit, um Verdächtige zu überwachen. Allerdings trübt die Müdigkeit das Urteil. Vielleicht entgeht ihm ja dann doch der entscheidende Moment oder ein wesentliches Detail. Im Thriller „Die Frau im Nebel“ (2022) des südkoreanischen Regisseurs Park Chan-wook heißt der Polizist Jang Hae-joon, gespielt von Park Hae-il. Er späht mit dem Fernglas das Leben einer jungen Frau aus, deren Mann kürzlich gestorben ist. Der Gatte stürzte von einem Felsen, auf den nur sehr mutige Menschen überhaupt klettern würden, und er war deutlich älter als seine Frau – und auch sehr reich. Für einen Polizisten sind das ausreichend Gründe, um zumindest darüber nachzudenken, ob vielleicht jemand nachgeholfen hat bei dem Sturz. Und um die Witwe Song Seo-rae (Tang Wei) zu beschatten.
Ein Polizist, der nicht schlafen kann – das ist ein geläufiges Motiv in Kriminalerzählungen. Die Menschen, die Fälle lösen, haben ihre eigenen Probleme, das gehört zum Genre. Jang Hae-joon hat es nicht nur mit Kollegen zu tun, denen ein wenig der Ernst fehlt. Er führt auch eine Wochenendbeziehung mit seiner Frau, die in Ipo lebt, in einer ländlichen, kleineren Stadt außerhalb der Metropole Busan. Beim Sex ist er manchmal ein wenig abwesend, seine Gedanken wandern, es fällt ihm schwer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Jang Jae-joon ist ein klassischer Fall eines Mannes, der das Recht schützen soll, der aber keineswegs über Krisen erhaben ist.
Die Spannung zwischen Moderne und alter Kultur
In Hollywood-Filmen wäre Song Seo-rae eine Femme fatale, sie würde Jang Hae-joon anziehen – und ihn schließlich vernichten. Park Chan-wook ist sich dieser großen Archetypen sehr bewusst, er knüpft mit „Die Frau im Nebel“ deutlich beim US-amerikanischen Kino an, überträgt dessen Formeln aber in die koreanische Kultur. Der Staat Südkorea auf der geteilten Halbinsel hatte immer schon starke Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Und nicht zuletzt aus den Filmen von Park Chan-wook kann man sehr gut ersehen, wie sich im Alltag der Menschen in Korea modernste Technik und heutzutage oft auch großer Wohlstand mit einer alten Kultur verbinden. Diese Spannung prägt im 21. Jahrhundert fast alle Gesellschaften.
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