Zärtlichkeit und Zerstörung

Eine Frau filmt über fünf Jahre ihren Alltag im syrischen Bürgerkrieg. Den daraus entstandenen Dokumentarfilm widmet sie ihrer im Krieg geborenen Tochter. Sie soll verstehen, wofür ihre Eltern gekämpft haben.

Foto: FuerSama, ITN Productions, ZDF

Das Kleid, das Waad al-Kateab 2020 zur Oscar-Verleihung trug, war eine lyrische Botschaft an den syrischen Diktator Baschar al-Assad. Quer über ihre bodenlange Seidenrobe hatte die Filmemacherin aus Aleppo eine Kalligrafie aus pinkfarbenem Garn sticken lassen. „Wir haben zu träumen gewagt – und wir werden unsere Würde nicht bereuen“, lautet die Übersetzung der arabischen Gedichtzeilen. Al-Kateab, deren Dokumentarfilm über den Syrienkrieg für einen Oscar nominiert war, erklärte ihr Statement mit den Worten: „Es handelt von der Geschichte eines unterdrückten Volkes und einer außergewöhnlichen Revolution“. Inspiriert habe sie ein Wandgraffiti, das syrische Regimegegner im Jahr 2011 an eine Mauer in der Stadt Daara gemalt hatten.

Es war das Jahr, in dem der Arabische Frühling Syrien erreichte. Im ganzen Land gingen Tausende Menschen auf die Straßen, um gegen das autokratische Regime von Machthaber Assad zu demonstrieren. Die damals 19 Jahre alte Studentin ­Waad ­al-Kateab schloss sich der Protestbewegung an und begann, ihren Alltag in der syrischen Hauptstadt mit dem Smartphone zu filmen. „In Würde leben oder sterben“, rufen Hunderte Demonstrierende in den verwackelten Aufnahmen, die den Optimismus und die Aufbruchstimmung jener Wochen festhielten.

Für Sama

Dokumentarfilm

Dienstag, 14.9. — 22.15 Uhr
bis 12.11. in der Mediathek

„Das ist Aleppo: Was ist Gerechtigkeit?“, steht auf dem Plakat, das Sama in die Kamera hält. Es gilt dem US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten ­Gary ­Johnson, der 2016 in einem Interview gefragt hatte: „Was ist Aleppo?“. Foto: ITN Productions, ZDF

Zeugin einer Kriegsdekade
Zehn Jahre später liegt das Land in Schutt und Asche. Der Dokumentarfilm „Für Sama“, den ARTE im September ausstrahlt, ist ein radikal persönliches Zeitzeugnis einer Kriegsdekade. Die Journalistin, die sich zum Schutz ihrer Familie das Pseudonym ­Waad ­al-Kateab gab, filmte zunächst mit dem Smartphone, später mit einer richtigen Kamera.

Ihre Bilder zeigen eindrücklich, wie sich aus dem anfangs friedlichen Aufstand gegen die syrische Regierung ein Bürgerkrieg entwickelte, der nach der Einmischung internationaler Großmächte in den tödlichsten Stellvertreterkrieg des 21. Jahrhunderts mündete. „Ich filme alles“, kommentiert sie eine Szene. „So habe ich einen Grund, hier zu sein.

Und ich halte diesen Albtraum besser aus.“ Die Filmemacherin verzichtet auf eine geopolitische Analyse des bis heute andauernden Konflikts, der laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte bislang mehr als 500.000 Menschen getötet und 12,9 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat. Stattdessen machen ihre rohen, tagebuchartigen Aufnahmen das tägliche Grauen des Krieges erfahrbar.

Al-Kateab mit ihrem Mann und Tochter ­Sama bei der Oscar-Verleihung 2020. Foto: Robyn Beck, AFP, Getty Images

Sie filmt eine Mutter, die den Leichnam ihres Sohnes anfleht, er möge aufwachen und ihre Milch trinken. Sie filmt einen in Schockstarre gefallenen Jungen, dessen Bruder von einer Bombe getötet wurde. Sie filmt Blutlachen und Leichenteile – und die Trauer der Hinterbliebenen bei jedem weiteren Verlust. Viele Szenen schärfen den Blick für den Zusammenhalt innerhalb der Zivilbevölkerung. Sie zeigen Menschen, die nicht mehr nur Opfer des Krieges sind, sondern auch seine Helden: jene Syrerinnen und Syrer, die angesichts der Zerstörung Zeit für Zärtlichkeit finden, die einander Halt geben und ihre durch Granatenangriffe verwüsteten Vorgärten neu bepflanzen.

„Die Belagerten werden zur Familie“, sagt ­al-Kateab, während sie gegen den Rat ihrer Eltern in dem von Rebellen besetzten Aleppo ausharrt. Filmisch begleitet sie ihre Freunde und Freundinnen, die ein Krankenhaus errichten, um die medizinische Versorgung in der Stadt zu sichern. ­Al-Kateab verliebt sich in den Leiter des Krankenhauses, die beiden heiraten. Als Russland sich Ende 2015 in den Krieg einmischt, um Diktator ­Assad im Kampf gegen die eigene Bevölkerung zu unterstützen, ist die junge Frau hochschwanger.

„Hier ein Kind großzuziehen bedeutet, ihm die Hölle zuzumuten“, spricht sie in die Kamera. Am 1. Januar 2016 kommt ihre Tochter zur Welt. Die Eltern taufen sie auf den Namen ­Sama – das arabische Wort für Himmel. „Wirst Du mir je verzeihen?“, fragt ­al-Kateab, während die russische Luftwaffe nahezu pausenlos Angriffe auf Ost-Aleppo fliegt. Als das Krankenhaus ihres Mannes bombardiert wird, lässt sich die Familie schließlich evakuieren. Über die Türkei gelangt sie nach Großbritannien, wo ­al-Kateab mit dem Filmemacher ­Edward Watts über 1.000 Stunden Archivmaterial zu einem Dokumentarfilm verdichtet.

„Für Sama“ zählt zu den raren Kriegsberichten aus der Sicht einer Frau – und wird mit mehr als 50 Filmpreisen bedacht. Im Interview mit dem britischen Nachrichtensender BBC betont ­al-Kateab: „Das Filmemachen ist für mich keine Berufung, sondern aus der Notwendigkeit heraus geboren.“