Als man den italienischen Opernsänger Enrico Caruso (1873–1921) einmal nach dem Rüstzeug fragte, das ein großartiger Tenor benötige, zählte er nicht ohne Selbstironie auf: „Es braucht einen großen Brustkorb, einen großen Mund, 90 Prozent Gedächtnis, zehn Prozent Intelligenz, sehr viel schwere Arbeit und ein gewisses Etwas im Herzen.“ Beim Anblick des 1969 geborenen Jonas Kaufmann möchte man hinzufügen: Auch ein gewisses Aussehen schadet nicht. Für viele symbolisiert der Tenor perfekt den romantischen Opernhelden.
Auch wenn Jonas Kaufmann längst zu den Großen seines Fachs zählt, wird er regelmäßig zum Sexsymbol deklariert. „Ich bin Sänger, kein Model“, betont Kaufmann an Tagen, an denen es ihm zu viel wird mit Zuschreibungen wie „Heldentenor im Séparée“ oder „Latin Lover“. Nüchterne Gemüter mögen da applaudieren, aber es gibt tatsächlich Fans, die kreischen wie Teenager, wenn der Sänger mit „dunkel gedecktem, virilem“ Tenor, der von „nie stechender Strahlkraft ist“ (Münchner Merkur), zum hohen C ansetzt und in herrlichen Portamenti und Schluchzern die „Liebe in Dur und Moll“ besingt, wie es beim österreichischen Komponisten Franz Lehár heißt. Denn da, wo das wahre Leben dezent wimmert, da heizt das Gefühlskraftwerk Oper mit voller Dröhnung ein, da gibt es kein Halten mehr. 40 Minuten Beifall wie in der Mailänder Scala sind bei Auftritten von Jonas Kaufmann keine Seltenheit. Bei einer Autogrammstunde in New York wurde aus dem Ruhm allerdings einmal fast ein Albtraum. Die Menschen hätten ihn buchstäblich an die Wand gedrückt, erinnert er sich. Die Security musste einschreiten.
Dass Jonas Kaufmann nicht unschuldig an seinem Popstar-Image ist, weiß er. Plätzchenbacken im Fernsehen, Auftritte bei der Meisterfeier des FC Bayern München, Homestorys in Hochglanzmagazinen, dazu eine Dokumentation in Werbefilmoptik mit Frau und Kind. „Warum das alles?“, möchte man den in Interviews unspektakulär und bodenständig wirkenden gebürtigen Münchner fragen. Seit der Pandemie, die er als „Schock“ empfand, wirkt der 53-Jährige getriebener denn je.
Dabei ist Kaufmann ein Meister des Durchhaltens. „Meinen die wirklich mich?“, fragte er 2010 noch im Untertitel seiner ersten Biografie. Das war nicht kokett gemeint. Denn tatsächlich wollte Kaufmanns Karriere anfangs nicht so recht durchstarten, was vermutlich auch an seinem strahlenden Auftreten lag. Die Wiener Staatsoper nahm ihn beispielsweise lange nicht wahr, und eine FAZ-Kritikerin urteilte in seinen Anfangsjahren in den 1990ern, Kaufmann sei zwar „schnuckelig anzuschauen, aber eng und unfrei in der Kehle“. Kaufmanns Selbsteinschätzung jener Zeit fällt ganz ähnlich aus: „Ich hatte null Tiefe, meine Stimme klang wie Micky Maus, ganz kopfig und mit ein bisschen Edelknödel im Hals. Manchmal blieb mir auf der Bühne die Stimme selbst in kleinen Partien weg“, räumte er im Interview ein. Im gleichen Gespräch unterstrich der begeisterte Autofan und Techniktüftler, der in einem selbst konzipierten Ökohaus lebt: „Wenn man einen Motor auf nur einem Zylinder laufen lässt und die anderen schont, dann geht der Motor kaputt. Amerikaner nennen das ‚undersinging‘.“ Eine Beschreibung, die man auch gut auf einen Tenor anwenden kann.
ERST DIE TECHNIK, DANN DIE INSPIRATION
Von Herakles heißt es, er habe seinen Musiklehrer Linos mit der Leier erschlagen. Ein Gesangspädagoge aber rettete -Kaufmanns Stimme mit einem simplen Rat: einfach mal entspannt gähnen. „Da fuhr plötzlich ein mächtiger dunkler Klang aus mir heraus – und ich erschrak“, erinnert Kaufmann sich noch heute an den Moment, als er verstand: Nur wenn die Technik verinnerlicht ist, kann man sich der Inspiration hingeben. Belcanto-Oper, Operette, Lied oder Rundfunkschlager – fast jede Partie, die sein Tenor-Fach bereithält, hat er gesungen. Von Mozarts Tamino, Massenets Werther, Verdis Otello, Puccinis Cavaradossi, Bizets Don José bis hin zu Schuberts einsamem Wanderer. Und immer wieder Wagner: Lohengrin, Parsifal oder Tristan. Viele Partien sang er unter Kirill Petrenko, dessen Proben-Ökonomie und Präzision er bewundert und mit dem er nun das auf ARTE übertragene Silvesterkonzert gestaltet.
Selbst im anscheinend Perfekten lassen sich Kaufmanns Ansicht nach oft noch Details finden, die man verbessern kann. Die Formel zum Erfolg hat der Sänger, der vor seinem Gesangsstudium an der Münchner Hochschule für Musik und Theater kurzzeitig Mathematik studiert hatte, offensichtlich gefunden. Aber gibt es für ihn auch eine Art Singformel? Seine Antwort ist interessant: Er baue sich auf der Basis der Töne und des Textes ein Gebilde, das immer neu ist. Es gebe aber nichts Vorgeformtes. „Ich schlüpfe in die Rolle und da passiert es, dass der Charakter die Stelle ganz anders empfindet: Man singt piano statt forte.“ Manchmal aber, betont er, laufe der Charakter auch einfach davon. Ganz so wie im wahren Leben.
Auf der Basis der Töne und des Textes baue ich mir ein Gebilde, das immer neu ist