Hoch, höher, Kalifornien

Immer scheint die Sonne und alle sind gut drauf. Kalifornien gilt als magischer Ort, der Zukunft besonders nah. Wie viel Realität steckt in seinem Mythos?

Menschenpyramide am Strand
Kraftakt: Zum kalifornischen Lebensstil gehört die ausgeprägte Körperkultur. Dafür arbeitet man, wie hier 1956 am Muscle Beach in Santa Monica. Foto: picture-alliance / Stay Still

Vermutlich ging es vielen wie dem jungen ­David ­Hockney: 1964 saß das Wunderkind der britischen Nachkriegsmalerei am Strand von Santa Monica. Die Luft war mild, der Pazifische Ozean schwappte, ­Hockney griff zum Stift. Auf einer Ansichtskarte an seinen Galeristen John ­Kasmin notierte er eine Temperatur von angenehmen 24 Grad: „Vor zwei Tagen im gelobten Land angekommen“, hieß es da. „Du musst herkommen.“ Die Karte zeigte frische Orangen und gebräunte Menschen in Badezeug. Für ­Hockney und Kalifornien war es Liebe auf den ersten Blick. Er gehörte zu jenen, die große Versprechen an den Rand des amerikanischen Kontinents lockten: die Zukunft, ein Leben nach eigenen Regeln. Oder wie Joan ­Didion, Schutzpatronin des mythischen Kaliforniens, es einmal ausdrückte: mindestens doch die Möglichkeit, ein geöffnetes Restaurant zu finden, wenn man nachts mal ein Sandwich möchte.

Mit seinen Gemälden von Swimmingpools und gläsernen Bungalows sollte ­David ­Hockney das Bild von Kalifornien selbst prägen wie wenige andere. Nicht, dass es eine Image-Kampagne gebraucht hätte. Kalifornien galt stets als Traumland aller, die auf einen Neuanfang bei schönem Wetter hofften. In einem solchen Licht sehen sich der Staat und seine Bewohner auch heute noch gern. Zu Recht? Je mehr Hiobsbotschaften von Naturkatastrophen und sozialer Erosion die Westküste ereilen, desto mehr Zweifel wirft das Konzept auf. Taugt Kalifornien noch als Zukunftsmodell?

Der kalifornische Welterfolg ist jung. Offiziell begann er mit einem Goldfund im Jahr 1848, der unzählige Siedler-Trecks anzog. Sie schoben sich über die Rocky Mountains, um das Land in Besitz zu nehmen – dass es bereits anderen gehörte, spielte keine Rolle. Tausende Indigene wurden getötet oder vertrieben. Mithilfe von Stauseen verwandelten die Neuankömmlinge die Steppe hinter der Pazifikküste in Zitronenhaine und Mandelplantagen. Ein Boom folgte dem nächsten: Öl und Hollywood, die Militärindustrie, ab den 1950ern schließlich die Raumfahrt.

California! Wie ein Land die Welt veränderte

3-tlg. Dokureihe

Dienstag, 1.8. — ab 20.15 Uhr
bis 29.10. in der Mediathek

WEIT ENTFERNRT VOM ESTABLISHMENT

Am erfolgreichsten aber war Kalifornien stets im Export eines Lebensgefühls. „Die Kultur der Westküste ist eine Kultur des Neuen“, sagt der Amerikanist Frank ­Kelleter im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Weiter entfernt von Europa, näher an der pazifischen Welt, ist man in den USA sonst nur auf Hawaii.“ Abseits vom stark europäisch geprägten Establishment an der Ostküste entstanden alle möglichen Innovationen und Lebensstile. Vor allem die Bay Area galt immer als Labor für nichtbürgerliche Lebensentwürfe. Sie wurde zum Pilgerort für Beat-Poeten, Hippies, Surfer und Bürgerrechtler. „Es herrschte ein fantastisches universales Gefühl, dass alles, was wir taten, richtig war, dass wir gewinnen würden“, schrieb der Schriftsteller Hunter S. ­Thompson 1971 über San Francisco. „Ein Gefühl des unvermeidlichen Sieges über die Mächte des Alten und des Bösen.“

In gewisser Weise nahmen selbst die Gegenkultur und ihre Ableger den Weg aller kalifornischen Trends: Ob Fitness, iPhones, Gemüsesäfte oder Schönheitschirurgie – was hier funktioniert, ergreift auch den Rest der Welt. Der Historiker ­Kevin Starr, inoffizieller Biograf des sogenannten Golden State, bilanzierte 2004 mit Blick auf die USA: „Das Land ist kalifornisiert worden.“ Soll man sich den Staat im äußersten Westen also als ­Extremversion alles Amerikanischen vorstellen? Oder als kuriosen Ausnahmefall? Fest steht: Er ist ein Ort, der den amerikanischen Traum auf die Spitze treibt – mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

„Im Herzen des kalifornischen Experiments steckt auch eine gewisse Verblendung“, sagt der Journalist Mark ­Arax, der unter anderem für die New York Times über die Westküste schreibt. Womöglich ist man dort so wild auf Wandel, weil hinter Kalifornien schlicht nichts mehr kommt. Der von Einwanderern befeuerte Pioniergeist, der sich durch den Kontinent gepflügt hatte, stieß dort an seine letzte Grenze. „Die Idee des Manifest Destiny, der Bewegung nach Westen, hat fast etwas Religiöses an sich“, so ­Arax im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin. Es steckt aber auch ein Zugzwang darin – die Gewissheit, dass es in Kalifornien nun wirklich hinhauen muss, weil einem sonst, nach Joan Didion, „unter diesem unermesslichen, ausgewaschenen Himmel der Kontinent ausgeht“.

Palmen bei Sonnenuntergang
Kalifornien gilt als Ort, an dem ständig neue Ideen entstehen. Politische Bewegungen und Hollywood-Blockbuster, Technik im Silicon Valley und Hippie-Kommunen auf dem Land: Mit seinen Innovationen und Lebensstilen hat der Staat an der amerikanischen Westküste beeinflusst, wie wir heute leben. Foto: Lukas Hoffmann / WDR

EINE SCHÖNERE, EINFACHERE WELT

Das Ergebnis ist eine gewisse Janusköpfigkeit: Kalifornien als Paradox. Denn seine Freiheit lud nicht nur zur Selbstverwirklichung ein, hier schlugen Utopien auch leicht in ihr Gegenteil um. Wollten die Hippies eine Totalisierung der Liebe, so endete die Bewegung nicht nur in harmlosen New-Age-Strömungen und Biobauernhöfen, sondern auch in Sekten wie der ­Manson Familiy. Und längst betrifft die dystopische Tendenz mehr als Ideologisches. Sie zeigt sich auch in den extremen Wohlstandsunterschieden eines Staates mit unzähligen Millionären und eklatanter Armut. Wer hier lebt, bekommt das leichte Leben nicht geschenkt. Und dennoch hat der Name „California“ seinen Klang nicht ganz verloren. Am wenigsten will man sich den Optimismus im Silicon Valley nehmen lassen, dem Eldorado der Tech-Branche. Seit Bill ­Hewlett und ­David ­Packard in einer Garage in Palo Alto einen Tonfrequenzgenerator erfanden, wird dort die Technologie von morgen ausgeklügelt. Man kann sich Firmen wie Apple oder Google, die sich über ein demonstrativ entspanntes T-Shirt-Ethos definieren, nirgendwo anders vorstellen. Nur hier glaubt man so inbrünstig an Innovation. Und nur hier zahlen Risikokapitalgeber so gerne Millionenbeträge an Studienabbrecher, die versprechen, dass ihre App die Welt schöner und einfacher macht – und ihre Investoren reich. So jedenfalls die Idee, denn das Ideal vom freundlichen Internet ist bekanntlich versandet. An seine Stelle trat ein „techno-utopischer Anarcho-Kapitalismus“, dessen Wurzeln der Amerikanist ­Kelleter auch in der kalifornischen Haltung des Anti-Establishments sieht. Sein Bewusstsein kann man schließlich auch befreien, wenn man mit den Daten anderer Menschen viel Geld verdient.

Vielleicht läuft einfach alles auf die Kunst der Illusion hinaus. Es ist das Prinzip Hollywood, das die Idee der Neuerfindung zur Maxime erhoben hat. Man denke etwa an die junge Frau, die als ­Margarita ­Carmen ­Cansino in Los Angeles ankam und – zahlreiche und schmerzhafte Schönheitsprozeduren später – als rothaariger Leinwandstar ­Rita ­Hayworth zu Weltruhm kam. An einem Ort, der keine Vergangenheit kennt, kann man Persönlichkeiten anprobieren wie eine neue Jeans.

Die Schriftstellerin ­Emma ­Cline hat in Büchern wie „The Girls“ (2016) oder „Daddy“ (2021) über kalifornische Archetypen geschrieben: die Gurus, die schrägen Vögel, die Start-up-Millionäre. ­Cline stammt aus dem Norden Kaliforniens, mit seinen sanften Hügeln und schroffen Küstenlandschaften. Für sie macht das Unwirkliche und Instabile den Staat aus. Wie in Los Angeles, wo sich modernistische Häuser an steile Hänge krallen: Ein Felsrutsch, ein Erdbeben, und alles ist hin. „Eigentlich sollten hier keine Menschen leben“, sagt sie. „Und doch tun wir es.“

Im Herzen des kalifornischen Experiments steckt eine gewisse Verblendung

Mark Arax, Journalist
Straßenbahn auf einem Hügel in San Francisco
Fotogenes Panorama: In den hügeligen Straßen von San Francisco. Foto: Daniel J. Schwarz / Unsplash

DIE NATUR HINBIEGEN 

Denn auch im Bereich Naturkatastrophen ist Kalifornien ein Vorreiter. Der Klimawandel ist dort schon besonders deutlich zu spüren. „Warme Palmenluft – eine Luft zum Küssen“, davon schwärmte Jack ­Kerouac. Das Problem ist nur, dass die Luft inzwischen meist trocken und heiß ist. Die Waldbrände der vergangenen Jahre gehören zu den bisher schlimmsten in der Geschichte der Gegend, und die Abstände zwischen ihnen werden immer geringer. Wasser fehlt sowieso, auch weil die riesigen Agrarbetriebe es auf ihre Felder umleiten. Obwohl Kalifornien als umweltbewusst gilt und strenge Regeln zur Reduktion von Treibhausgasen durchsetzt, hat zum kalifornischen Selbstverständnis stets gehört, dass man sich die Natur so hinbiegt, wie es einem passt. „Hier waren nicht die Menschen am falschen Ort, redeten wir uns ein“, schreibt Mark ­Arax in seinem Buch „Risse in der Erde“ (2023), „der Regen war am falschen Ort.“ Also wurden Seen trockengelegt, Flüsse dazu gebracht, gegen den Strom zu fließen. Die Folgen zeigen sich nun. Gut möglich, dass Kalifornien noch immer für die Zukunft steht – die Frage ist nur, ob es die ist, die man sich zum Vorbild nehmen will.

Person mit Umhang, auf dem
Der Yosemite-Nationalpark erstreckt sich in der Sierra Nevada. Foto: Nathan Dumlao / Unsplash

Angesichts solcher Tatsachen scheint auch der Firnis zwischen Mythos und Realität dünner zu werden. Hatten Schreibende in den 1970er Jahren noch im Duft der Orangenblüten geschwelgt, während eine Glocke aus grauem Smog auf Los Angeles drückte, so findet der klimatische Katastrophenmodus immer öfter Eingang in die Literatur. Etwa bei T. C. ­Boyle, der in seinem Roman „Blue Skies“ (2023) ein apokalyptisches Panorama von Kalifornien zeichnet. Das Land verdorrt, die Bäume fackeln ab, aber der Mensch ärgert sich in erster Linie darüber, dass die Familienfeier am Wetter scheitert. ­Boyle, der in den Wäldern von Montecito wohnt, hat die Feuer der vergangenen Jahre erlebt und die Schlammlawinen, die danach kamen. Er nimmt das Desaster mit Sarkasmus. „Jedes Mal, wenn ich eine Sirene höre, hoffe ich, dass bloß jemand einen Herzinfarkt hatte.“ Vielleicht ist auch das eine Errungenschaft des kalifornischen Paradoxes: dass man selbst düsteren Zeiten noch einen Witz abgewinnen kann.