»Lug und Trug«

BERGKRIMI Reinhold Messner hat eine packende Dokumentation über eines der größten Rätsel des Alpinismus gedreht: die angebliche Erstbesteigung des Cerro Torre in Patagonien. Ein Interview über Ambitionen und Abgründe.

Foto: Corey Rich/Red Bull Content Pool

Wenn es so etwas wie ein Lebensthema für den Extrembergsteiger und Abenteurer ­Reinhold ­Messner, 75, gibt, dann ist das das Ausloten von Grenzen. Wie gefährlich es sein kann, diese zu überschreiten, davon erzählt auch sein neuer Dokumentarfilm „Mythos Cerro Torre“, den ARTE im Mai ausstrahlt. Ein Telefoninterview über den schmalen Grat zwischen Ehrgeiz und fehlgeleitetem Heldentum.

ARTE Magazin Herr Messner, der Cerro Torre in Patagonien ist mit 3.128 Metern nicht sehr hoch. Warum galt er trotzdem als unmöglicher Berg?

Reinhold Messner Der Cerro Torre besteht aus steilen, glatten Granitwänden, die letzten 300 Meter sind teilweise überhängend und mit meterdickem Raureif bedeckt. Schöner hätte die Natur einen Berg nicht formen können. Heutzutage ist der Eispilz auf dem Gipfel mit modernen Geräten kletterbar, früher war das nahezu unmöglich.

ARTE Magazin Wie muss man sich das Equipment vorstellen, mit dem der Italiener ­Caesare ­Maestri und der Osttiroler ­Toni ­Egger – beide erfahrene Bergsteiger – 1959 aufgebrochen sind, um den ­Cerro ­Torre zu bewältigen?

Reinhold Messner Man trug damals Walkhandschuhe, Lodenhosen und plumpe Bergstiefel. Ich kann mich selbst noch gut daran erinnern, 1959 war ich 15 und bin in den Dolomiten geklettert. Die Ausrüstung von damals fühlt sich heute vorsintflutlich an.

ARTE Magazin Die Expedition ging tragisch aus. ­Toni Egger verunglückte tödlich, Caesare ­Maestri behauptet bis heute, der Aufstieg sei geglückt. Seit wann beschäftigt Sie dieses alpine Rätsel?

Reinhold Messner In den 1960er Jahren interessierte mich der Cerro Torre nicht, ich dachte, dieser Berg liegt am Ende der Welt, da komme ich niemals hin. Erst 1970, als ­Maestri noch einmal loszog und sich auf brachiale Weise mit Kompressor und Bohrmaschine zum Gipfel hochkämpfte, ist mir klar geworden, dass an seiner Darstellung der angeblichen Erstbesteigung etwas nicht stimmen konnte.

ARTE Magazin Maestri hat den Aufstieg elf Jahre später wiederholt?

Reinhold Messner Ja, auf einer anderen Route und mithilfe von Maschinen. Damit hat er selbst bewiesen, dass der Berg auf der Route von 1959 und mit primitiven Mitteln nicht bezwingbar war.

ARTE Magazin Um herauszufinden, was damals wirklich geschah, gehen Sie in Ihrem Film wie ein Detektiv vor. Was Sie zutage fördern, ist schier unglaublich: Eitelkeiten, Lügen, tödliche Intrigen. Wie passt das zu dem Bild des hehren Alpinisten?

Reinhold Messner Es gibt unter Bergsteigern genauso viel Neid, Lug und Trug wie woanders auch. In diesem Fall behaupteten die Beteiligten, Kameradschaft sei ihnen heilig, aber Tatsache ist, dass ein Kamerad verschollen geblieben ist. Wir kennen bis heute die genauen Umstände seines Todes nicht. Wäre ­Cesare ­Maestri damals heimgekommen und hätte gesagt: „Es war unmöglich, ich wollte nicht mein Leben riskieren“, hätten alle applaudiert. Stattdessen haben Mitstreiter Sprüche aus den Dreißigern gerissen, vom Übermensch ­Maestri und seiner Haltung „Gipfel oder Tod“. Das hat nichts mit Heldentum zu tun, sondern mit Dummheit.

ARTE Magazin Dem Film ist ein Zitat des österreichischen Alpinisten Paul Preuß vorangestellt: „Berge sind absichtslos.“ Warum haben Sie es ausgewählt?

Reinhold Messner Berge sind nur da. Übrigens genauso wie das Corona-­Virus. Wir Menschen dagegen sind Mängelwesen; wenn wir hergehen und sagen, für uns gibt es kein Unmöglich, dann setzen wir uns über die Natur. Das ist auch der Grund, warum ich sage: Berge lügen nicht. Ja, dort ist alles nachweisbar. Haken und Seile hängen noch viele Jahre in der Wand – oder eben nicht. Und wenn ­Cesare ­Maestri sagt, er habe die Nordwand im oberen Teil durchstiegen und die sei 45 Grad steil, dann weiß ich, dass er nicht dort gewesen sein kann. Denn die Wand ist dort 90 Grad steil.

Mythos Cerro Torre

Dokumentarfilm
Samstag, 16.5. • 20.15 Uhr
bis 22.5. in der Mediathek.

Foto: Riva Filmproduktion und Medienberatung GmbH/Arte

ARTE Magazin Im Alpinismus geht es um Rekorde, aber ist der Cerro Torre nicht eher deswegen interessant, weil er vom Umgang mit Misserfolg erzählt?

Reinhold Messner Rekorde zählen nicht, aber Scheitern gehört dazu. Mir ist das häufig passiert. Von insgesamt 31 Expeditionen zu Achttausendern bin ich 13 Mal gescheitert. Damit ist bewiesen, dass ich versucht habe, meine Grenze des Machbaren zu verschieben. Durch Versuch und Irrtum habe ich gelernt, wie weit ich gehen kann.

ARTE MagazinHaben Sie den Cerro Torre selbst einmal bestiegen?

Reinhold Messner Nein, weil ich nach dem Verlust von sieben Zehen am Nanga Parbat 1970 nicht mehr so gut klettern konnte. Stattdessen wurde ich Spezialist im Höhenbergsteigen.

ARTE Magazin Macht es eigentlich Spaß, sich bei minus 40 Grad hyperventilierend auf einen Achttausender zu quälen?

Reinhold Messner Nein, auch am Cerro Torre macht es keinen Spaß. Es ist immer stürmisch dort, alles ist vereist. Es ist die Hölle, bei einem Wettersturz in den Wänden zu hängen, fürchterlich.

ARTE Magazin Was ist dann der Antrieb, es trotzdem zu wagen?

Reinhold Messner Es gibt so viele Antriebe, wie es Bergsteiger gibt. Für mich ist jede Motivation legitim, auch Ehrgeiz.

ARTE Magazin Es geht darum, sich und anderen etwas zu beweisen?

Reinhold Messner Das Bergsteigen entwickelt sich seit 250 Jahren nach einer einzigen Prämisse: möglich oder unmöglich? Und jeder Einzelne und jede Generation versucht sich an dem, was die Vorgänger für unmöglich erklärt haben. Das ist das Spiel, das wir Alpinismus nennen. Als wir 1978 den Everest ohne Sauerstoffmaske geschafft hatten, war klar, dass wir mit viel weniger Material arbeiten können. Bei meiner ersten Expedition zum Nanga Parbat hatten wir acht Tonnen Ausrüstung. Als ich acht Jahre später alleine hochging, hatte ich nur 60 Kilogramm Expeditionsgepäck.

ARTE Magazin Ein kleiner Unterschied …

Reinhold Messner Damit hatte ich mehr Spielraum, etwas zu wagen, woran andere nicht einmal denken konnten. Obwohl der Respekt unter uns Bergsteigern riesengroß ist, gab und gibt es stillschweigende Rivalität.

ARTE Magazin Heute steigen Bergsteiger in Massen den Mount Everest hoch: Ist uns der Sinn für die Grenzen des Menschenmöglichen abhandengekommen?

Reinhold Messner Nein, der Everest ist Tourismus, ein Geschäft. Ein echter Alpinist geht dorthin, wo niemand anderer ist. Wie 1959 am Cerro Torre, Patagonien war damals Wildnis.

ARTE Magazin In der Wildnis haben die Gesetze der Zivilisation keine Bedeutung. Was ist daran so anziehend?

Reinhold Messner Das ist eine wesentliche unterbewusste Motivation: Wir gehen dorthin, wo der Mensch ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist. Wir leben dort wie die Menschen vor 50.000 Jahren – in einer archaischen Welt nach anarchischen Mustern. Das griechische anarchos heißt ja nichts anderes als „keine Macht für niemanden“. Es gibt dort keine Gesetze noch eine Religion, die Regeln machen wir selbst.

ARTE Magazin Nach welchen Maßstäben?

Reinhold Messner Eben nicht nach moralischen Gesichtspunkten, sondern nach dem, was genetisch in uns festgelegt ist. Wir haben egoistische sowie altruistische und empathische Seiten in uns. Wenn es ums Überleben geht, zwingt uns unser Selbsterhaltungstrieb dazu, an uns zu denken. Wir sind alle Egoisten, und wer das Gegenteil behauptet, hat von der Menschennatur nichts verstanden.

ARTE Magazin Sie zitieren gerne Friedrich Nietzsche: „Moral ist nur eine Wichtigtuerei des Menschen vor der Natur.“

Reinhold Messner Ein fantastischer Satz. Moral ist im Großen und Ganzen die Summe dessen, was Religionen und Gesellschaft im Laufe der Jahrtausende an Verhaltensregeln aufgestellt haben.

ARTE Magazin Corona hat gezeigt, wie fragil unsere Zivilisation ist.

Reinhold Messner Für mich ist das Virus – obwohl winzig klein – wieder ein Zeichen, dass wir der Natur unterlegen sind. Die Naturgesetze stammen nicht von uns. Es gab ja schon öfter Krisen, denen wir nicht gewachsen waren, wie die Spanische Grippe oder die Pest im Mittelalter. Dennoch hieß es auch dieses Mal: Alles lösbar, bald vorbei. Es hat sich gezeigt, dass es so einfach nicht geht.

ARTE Magazin In den vergangenen Wochen wurde die individuelle Freiheit von uns allen stark eingeschränkt. Wie haben Sie das erlebt?

Reinhold Messner Ich bin ein anpassungsfähiger Mensch. Ich schreibe und lese viel, nehme mir eine Auszeit. Direkt bevor die Ausgangsbeschränkungen kamen, war ich in Äthiopien zum Bergsteigen. Und ich habe mir für meine Museen das dortige Bergvolk der Amhara angesehen. Es lebt auf 3.000 Metern als Selbstversorger in einem eigenen Rhythmus und hat eine eigenständige Kultur entwickelt.

ARTE Magazin Sie haben in Ihrer Heimat Südtirol sechs Bergmuseen eröffnet, die Messner Mountain Museen. Welche Botschaft vermitteln diese Einrichtungen?

Reinhold Messner Meine Museen sind das Narrativ zum traditionellen Bergsteigen – also nicht zum Tourismus am Everest. Es geht um alpine Geschichte, Geologie, um Bergvölker, um heilige Berge und um die Beziehung des Menschen zum Fels, zum Eis. Dem Berg passiert nichts, wenn wir auf ihn steigen, aber wir Menschen können unsere Haltung zu ihm verändern.

ARTE MAGAZIN Sie zählen zu den bekanntesten Bergsteigern der Welt. Selbst Menschen, die noch nie im Gebirge waren, erkennen Sie auf der Straße. Sind Sie eine moderne Heldenfigur?

Reinhold Messner Wenn wir Menschen wirkliche Helden wären, könnten wir keine Erfahrungen machen, hätten nichts zu erzählen. Ich persönlich kenne das Gefühl der Angst im Nahen des Todes. Nicht nur mein Bruder ist am Berg gestorben, ich bin buchstäblich über Tote gestolpert, die wir beerdigt haben. Diese Erfahrungen haben mich gelehrt, dass wir Menschen die Natur als höchste Instanz zu akzeptieren haben. Sie ist eine göttliche Dimension.