Wann ist ein Mann ein Mann?

Soziale Medien wie TikTok verbreiten krude Thesen zu Geschlechterrollen. Was steckt hinter dem dabei vermittelten Männlichkeits­bild – und wie beeinflusst es junge Nutzer?

Ein Mann mit blonden Haaren und Bart trägt ein T-Shirt, auf dem ein Sixpack aufgedruckt ist
Foto: Bastian Thiery

Wann ist ein Mann ein Mann? Diese Frage stellte sich der Sänger Herbert Grönemeyer bereits 1984 in seinem Hit „Männer“. Über vier Jahrzehnte später ist diese Frage aktueller denn je. Denn während sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend progressive Vorstellungen von Männlichkeit etabliert haben, verbreiten sich parallel dazu immer mehr rückwärtsgewandte Ideale. Diese sogenannte Krise der Männlichkeit und die Entwicklung von Männlichkeitsbildern beleuchtet ARTE in der Dokureihe „Starke Männer“. Dabei wird auch die Rolle sozialer Medien thematisiert, die toxische Männlichkeitsideale verbreiten.

Besonders deutlich wird das auf der Videoplattform ­TikTok, die vom chinesischen Unternehmen ­ByteDance betrieben wird: Wenn man sich dort mit einem Test-Account anmeldet, dauert es nicht lange, bis das soziale Netzwerk einem Videos von selbst ernannten „echten Männern“ in den Feed spült. In kurzen Clips behaupten muskelbepackte Kerle, ein Mann dürfe nicht weinen, müsse viel Geld verdienen und solle sich von Frauen nichts sagen lassen. Es scheint, als genüge allein die Angabe des Geschlechts, damit der Algorithmus dieses starre und scheinbar unumstößliche Bild von Männlichkeit präsentiert. Dass das kein Zufall ist, bestätigen zahlreiche Studien. So heißt es im Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung zusammengefasst: „Leider zeigt die Praxis, dass sich auch in sozialen Medien Geschlechterstereotype etabliert haben, mit spezifischen, zum Teil extremen Ausprägungen und Hintergründen.“ Frauen würden demnach häufig als passiv oder sexualisiert dargestellt, Männer bevorzugt als dominant und unverwundbar.

Starke Männer

Dokureihe

ab 14.2. in der
Mediathek

Dass diese Inhalte ein strukturelles Problem sind, bestätigt die Autorin Susanne Kaiser, die in ihrem Buch „Politische Männlichkeit“ das Phänomen toxischer Muskulinität untersucht. „Extreme, frauenverachtende Männlichkeitsbilder finden sich mittlerweile in allen sozialen Netzwerken“, sagt sie im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin. Dennoch macht ­Kaiser Unterschiede zwischen den Plattformen aus: „Auf Instagram gibt es eine größere Vielfalt an Männlichkeitsbildern. Dort wird zudem auch kritisch über Geschlechterrollen diskutiert.“ TikTok hingegen werde von der Vorstellung der Male Supremacy dominiert – also der Überzeugung, Männer seien Frauen grundsätzlich überlegen. Warum das so ist, erklärt ­Kaiser mit dem Algorithmus der Plattform: „Der Algorithmus zeigt vor allem kontroverse Inhalte, weil diese die meiste Aufmerksamkeit erzeugen.“ Dahinter steckten knallharte Profitinteressen: Je mehr Interaktionen generiert werden, desto länger bleiben die Nutzer und Nutzerinnen auf der Plattform – und desto mehr Werbeeinnahmen können erzielt werden.

Viele der in sozialen Medien verbreiteten Männlichkeitsentwürfe lassen sich in die sogenannte Manosphere zurückverfolgen, also Online-Communitys, in denen extreme Ansichten zu Geschlechterrollen kursieren. Darunter gibt es sogenannte Pick-up-Artists, die mit manipulativen Techniken versuchen, Frauen zu erobern, oder ­„Incels“: Der Begriff ist eine Mischung aus den englischen Wörtern „involuntary“ (unfreiwillig) und „celibate“ (sexuell enthaltsam) und wird von jungen heterosexuellen Männern, denen sexuelle oder romantische Beziehungen zu Frauen fehlen, als Selbstbezeichnung genutzt.

Lange Zeit beschränkten sich solche Gruppierungen auf Nischenforen. Laut ­Kaiser hätten Plattformen wie TikTok diese radikalen Strömungen in den Mainstream befördert. Die Auswirkungen entsprechender Inhalte auf junge Menschen sind nach Ansicht der Autorin gravierend: „Gerade für Jugendliche in der Identitätsbildung erzeugen diese Männlichkeitsbilder einen Druck, sich unrealistischen Idealen anzupassen, und fördern eine Kultur, die Verletzlichkeit als Schwäche betrachtet.“

Dass diese frauenverachtenden Darstellungen in den sozialen Netzwerken das Rollenverständnis von Jugendlichen prägen, wird auch durch Studien belegt. „Je intensiver junge Menschen soziale Medien nutzen, desto stärker verfestigen sich stereotype Rollenbilder“, heißt es in einem Bericht der Organisation Plan International. Laut der Studie halten ein Drittel der befragten Mädchen und Frauen sowie mehr als die Hälfte der Jungen und Männer, die täglich soziale Medien nutzen, es für akzeptabel, dass Frauen für die gleiche Arbeit weniger verdienen als Männer. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sieht ­Susanne ­Kaiser vor allem die Politik in der Verantwortung. Ihrer Meinung nach mangelt es in Deutschland an klaren Regelungen, die Plattformbetreiber verpflichten, Manipulationen durch extremistische Akteure wirksam einzudämmen. ­Kaiser verweist auf Vorbilder aus anderen Ländern: In Australien ist Ende 2024 ein Gesetz verabschiedet worden, das vorsieht, dass Plattformen wie ­TikTok, ­Facebook, ­Snapchat, ­Reddit, X und Insta­gram unter 16-Jährige systematisch daran hindern müssen, Accounts zu besitzen. Auch in Norwegen wird aktuell eine Anhebung des Mindestalters für soziale Medien diskutiert. „Warum Deutschland bei der Regulierung von Plattformen derart hinterherhinkt, ist für mich nicht nachvollziehbar“, kritisiert ­Kaiser. Die Diskussion darüber müsse dringend an Dynamik gewinnen, um den Herausforderungen der digitalen Welt gerecht zu werden.

Frauenverachtende Männlichkeitsbilder finden sich in allen sozialen Netzwerken

Susanne Kaiser, Autorin