Queer. Ein Begriff, der in den USA als Schimpfwort gegenüber Homosexuellen verwendet wurde – bis ihn mutige Menschen als positive Selbstbezeichnung umdeuteten. Parallel dazu erreichten politische Aktivistinnen und Aktivisten die Entkriminalisierung von Homosexualität und erkämpften Rechte wie die Ehe für alle. Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesen Entwicklungen ziehen – auch für das gegenwärtige gesellschaftliche Zusammenleben? Um diese Fragen zu beantworten, erforscht der Historiker Benno Gammerl queere Bewegungen ausgehend vom Deutschen Kaiserreich bis heute.
ARTE Magazin Herr Gammerl, warum war es aus Ihrer Sicht so wichtig, ein Überblickswerk zur queeren Geschichte zu schreiben?
Benno Gammerl Als leidenschaftlichen Historiker hat es mich gestört, dass die Geschichte queerer Bewegungen wie abgekoppelt von der Gesamtgesellschaft wahrgenommen wird. Stattdessen kann sie aber als Seismograf für politische Entwicklungen dienen – denken Sie nur daran, wie schnell Homosexualität in autoritärer werdenden Regimen unter Strafe gestellt wird. Zudem wird sie in Deutschland oftmals als Auf und Ab oder als Erfolgsstory erzählt. Meine Forschung zeigt aber, dass die Lebenswelt queerer Menschen durch ein Nebeneinander widersprüchlicher Entwicklungen geprägt ist: Stigmatisierung, Emanzipation, Normalisierung.
arte magazin Haben Sie ein Beispiel?
Benno Gammerl Der Umgang mit der Aids-Pandemie in den 1980er Jahren ist dafür erhellend. Einerseits führte er zu einer heftigen Re-Stigmatisierung homosexueller Menschen, und so mancher Vorschlag zur Bekämpfung von Aids klang alles andere als liberal. In jener Zeit lag Widersprüchliches besonders nah beieinander: Leiden und Ausgrenzung, aber auch emanzipatorische Verve im Kampf gegen Diskriminierungen. Aktivistinnen und Aktivisten nutzten die große öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Anliegen.
ARTE Magazin Schauen wir mal auf die Gegenwart. Sie ziehen in Ihrem Buch „Queer“ eine Parallele zu der Situation queerer Menschen in der Weimarer Republik. Wo sehen Sie Ähnlichkeiten?
Benno Gammerl Die 1920er Jahre in Europa waren von Armut und politischer Gewalt geprägt, aber auch von blühenden Partyszenen, etwa in Berlin und Paris. Es gab eine neue Sichtbarkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen, Geschlechterrollen wurden auf den Kopf gestellt. Darin liegen für mich Ähnlichkeiten zur gegenwärtigen Lage: Es gibt einerseits streng konservative und rechtsextreme Stimmen, die einen „Genderwahn“ ausrufen. Gewalttaten gegenüber Homosexuellen und Transpersonen nehmen zu. Zugleich werden queere Menschen im Alltag immer sichtbarer. Geschlechterrollen werden neu konstruiert, und um Rechte, wie die Abschaffung des Transsexuellengesetzes, wird öffentlich gestritten.
ARTE Magazin Bis in die 1970er Jahre hinein hat sich die Geschichtswissenschaft kaum mit queeren Themen befasst. Was bedeutet das für Ihre Forschung?
Benno Gammerl Anfangs haben viele engagierte Menschen, wie pensionierte Geschichtslehrer oder Künstlerinnen, in ihrer Freizeit zu diesen Themen geforscht, ganz ohne die Anerkennung akademischer Institutionen. Erst ab den 1980er Jahren konnte die Forschung dann professioneller durchgeführt werden; es gab Fördergelder, wegweisende Studien wurden publiziert. Die Arbeit mit Quellen bleibt in meinem Forschungsfeld aber dennoch schwierig.
ARTE Magazin Woran liegt das?
Benno Gammerl Viele Quellen stammen aus den Archiven der Polizei und beschreiben die Verfolgungsgeschichte und juristische Verurteilungen. Oder es sind medizinhistorische Quellen, in denen Homosexualität als behandlungsbedürftig dargestellt wird. Mir ist es daher wichtig, dass betroffene Menschen auch selbst zu Wort kommen. Ich arbeite gerne mit Briefen, Tagebüchern und in der wissenschaftlichen Tradition der Oral History. Hierbei werden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt und von den Interviewenden möglichst wenig beeinflusst.
ARTE Magazin Sie schreiben, dass die queere Perspektive es ermöglicht, die deutsche Geschichte als Ganzes besser zu verstehen. Was meinen Sie damit?
Benno Gammerl Viele gesellschaftliche Dynamiken sind eng mit Geschlechterhierarchien, Familienbildern und dem Umgang mit sexueller Vielfalt verbunden. Diese Themen gehen uns alle an. Politisch autoritäre Tendenzen kündigen sich oft in diesen Themenbereichen als Erstes an. Wir profitieren letztlich alle von einer Atmosphäre, in der offen über Intimität und Sexualität gesprochen werden kann. Einen großen Beitrag hierzu haben queere Engagierte geleistet. Ohne ihren Mut wäre die deutsche Gesellschaft heute weit weniger bunt und offen.
Zur Person
Benno Gammerl, Historiker
Der Professor für Gender-und Sexualitätengeschichte in Florenz beschäftigt sich auch mit Emotionsgeschichte. Sein Buch „Queer“ erschien 2023.