Es ist eine Szene wie aus einem sehr unangenehmen Traum: An der Wohnungstür klingeln die Kollegen und man steht ohne Kleider da. Nicht, dass der Besuch im Film „Toni Erdmann“ (2016) überraschend käme. Ines, Strategin bei einer Unternehmensberatung, hat ihren Business-Brunch gründlich vorbereitet, sie hat Lachshäppchen arrangiert, Sekt kaltgestellt und sich mithilfe einer Gabel in ein Designerkleid gezwängt. In letzter Minute aber wird ihr klar: Das Kleid geht gar nicht, sie muss da sofort wieder raus. Sie reißt und zerrt, steckt fest, ist halb drin, halb draußen, windet sich, kriegt Panik. Aber jetzt klingelt es an der Haustür. Erst einmal, dann ein zweites Mal. Irgendwann hat sich Ines aus der Klamotte gekämpft. Und öffnet einfach so, wie sie ist: nackt. Ihren Gästen erklärt sie, dass auch sie nur ohne alles zur Party dürfen, es handele sich um eine Teambuilding-Maßnahme. Woraufhin sich tatsächlich einige Kollegen ausziehen und sich verschämt, aber auch irgendwie euphorisiert von der eigenen Courage in der Wohnung herumdrücken. Man kann es einen Gänsehautmoment nennen: Selten war das Konzept Fremdscham im Kino so körperlich fühlbar. Und kaum eine Schauspielerin könnte den Irrsinn so lapidar rüberbringen wie Sandra Hüller, die Ines spielt. Weil ihr Auftritt so kühn und direkt wirkt – das Gegenteil von künstlich.
Mit diesem Rezept ist Hüller in den vergangenen Jahren zur bekanntesten deutschen Schauspielerin ihrer Generation geworden. Mit dem französischen Justizdrama „Anatomie eines Falls“ (2023) und dem Auschwitz-Film „The Zone of Interest“ (2023) war sie 2024 mit gleich zwei Beiträgen bei den Oscars vertreten. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in Cannes gefeiert. Während sie in Deutschland schon lange zu den großen Namen im Kino und am Theater gehört, wurde man nun international aufmerksam auf ihre No-Nonsense-Attitüde.
KEINE ROTEN LINIEN
Denn wenn es so etwas wie eine Hüller-Handschrift gibt, dann die, dass sie ihre Figuren so unverstellt hervorbringt, dass man gern vergisst, es mit bloßem Spiel zu tun zu haben. Immer scheint es um Elementares zu gehen, um alles. Ihre Charaktere sind nicht unbedingt Sympathieträger; vielen ist herzlich egal, was andere über sie denken. Bei manchen knallen irgendwann die Sicherungen. Dann bricht sich etwas Bahn. „Toni Erdmann“ hat auch darum etwas Rauschhaftes, weil man mit Ines den Reiz darin erkennt, sich noch tiefer reinzureiten. Ist ja jetzt auch schon egal!
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