Hollywoods Unruhestifter

Sean Penns Leben gleicht einer Achterbahnfahrt, seine Arbeit als Schauspieler und Regisseur wirkt subversiv. Weil er es so will – und der Erfolg gibt ihm recht.

Schauspieler Sean Penn im Profil
Mit seinem feinen Gespür für das Subversive verkörpert Sean Penn einen ganz bestimmten Typus im Kino: den Rebellen. Foto: BALAZS GARDI/The New York Times/Redux/laif

Einen Typen wie Sean Penn kann man nicht erfinden. Sein Leben stammt aus keinem Skript, und einem Drehbuchautor würde man die vielen unwahrscheinlichen Wendungen kaum abnehmen: die Kindheit in Malibu, an den Traumstränden von Los Angeles; die Mutter Schauspielerin, der Vater einer der Filmregisseure, die auf Hollywoods berüchtigter Schwarzer Liste standen und sich jahrelang mit Fernsehjobs herumschlagen mussten. Dann der erste Auftritt des jungen Sean in der Serie „Unsere kleine Farm“ (ab 1982), die erste größere Rolle in einer Teenagerklamotte, der schnelle Aufstieg im Mainstream­kino, die Heirat mit dem Pop-­Superstar ­Madonna. Es folgten Ärger mit der Klatschpresse, Angriffe auf Fotografen und Statisten, Verurteilung, Bewährung, Gefängnis. Dazu Scheidung, Affären, eine neue Ehe, Hauptrollen in ­Studio- und Independent-­Filmen, erste Arbeiten als Regisseur, der erste Oscar 2004, der zweite fünf Jahre später. Nicht zu vergessen sein humanitärer Einsatz in Haiti und New Orleans, seine politischen Provokationen, die Reisen in Schurken­staaten sowie die Gespräche mit Autokraten und Drogenbossen. Schließlich der Kampf gegen die Corona-­Pandemie und für die Freiheit der Ukraine, Arthouse-­Filme, kleinere Rollen – und plötzlich, wie aus dem Nichts, wieder ein großer Auftritt als Taxifahrer in der Nacht von New York.

Das alles klingt wie eine Achterbahnfahrt ohne Sicherheitsgurt – und vielleicht sollte man die Biografie des Sean Justin Penn aus Santa Monica, Kalifornien, auch genauso verstehen: als Versuch, aus dem Auf und Ab des Lebens die größtmögliche Energie herauszuziehen. Schon der kiffende Surfer Jeff ­Spicoli, den er mit 21 Jahren in Amy Heckerlings Highschool-Komödie „Fast Times at Ridgemont High“ (deutscher Verleihtitel: „Ich glaub’, ich steh’ im Wald“, 1982) verkörperte, war ja zu wesentlichen Teilen aus eigenen Jugenderlebnissen gestrickt; und für ­Spicolis unvergessliche Blickduelle mit seinem verhassten Geschichtslehrer musste sich der junge Sean Penn sicher nicht besonders verstellen.

Vor allem aber hat er in seiner bislang größten Rolle als Todeskandidat in Tim ­Robbins’ „Dead Man Walking – Sein letzter Gang“ (1995) von der Erfahrung profitiert, auch wenn sie bei ihm selbst nur 33 Tage dauerte. Als Doppelmörder ­Matthew ­Poncelet bewegt er sich durch die Räume des Hochsicherheitsgefängnisses von Louisiana mit einer Selbstverständlichkeit, die man nicht in Schauspielschulen trainieren kann. Zugleich spielt er die wachsende Angst des Todgeweihten vor seiner nahenden Hinrichtung auf eine Weise, für die es im Deutschen nur ein treffendes Wort gibt: genial. Und diese Genialität hat ebenso viel mit Instinkt und Talent wie mit harter Arbeit zu tun. Sean Penn gehört zu jener Elite US-amerikanischer Schauspieler, die wie der junge ­Dustin ­Hoffman und der frühe ­Robert De ­Niro an die reine Lehre des New Yorker Actors Studio glauben: Spiel keine Rollen, sondern Menschen; setz deinen ganzen Körper ein und nicht bloß dein Können. Auch Penn hat sich für seine Auftritte im Kino geschunden, hat sich für den korrupten Anwalt in „Carlito’s Way“ (1993) Speck angefressen und die Stirn ausrasiert und für den gutherzigen Killer in „The Gunman“ (2015) dicke Muskelpakete auf Arme, Brust und Beine gepackt. Für den Part des alternden Rockstars ­Cheyenne in ­Paolo ­Sorrentinos „This Must Be the Place“ (2011) schraubte er seine Stimme eine Etage höher; um Nixons Wahlkampfmanager John ­Mitchell in der Fernsehserie „Gaslit“ (2022) verkörpern zu können, schlüpfte er in eine Latexmaske. Aber es gibt auch Rollen, für die er weder seinen Körper noch sein Gesicht manipulieren musste – sie gehören sogar zu seinen besten.

Die Verdammten des Krieges

Kriegsfilm

Sonntag, 18.5. —
22.00 Uhr

Mediathek

In die "Verdammten des Krieges" spielt Sean Penn einen brutalen Seargent. Foto: picture-alliance/dpa

Mimik Zwischen naivität und mörderischer Kälte

Etwa die des U.S. Army Sergeants Tony Meserve in Brian De Palmas Kriegsfilm „Die Verdammten des Krieges“ („Casualties of War“) von 1989. Meserve, der mit seiner Truppe ein vietnamesisches Dorf überfällt und ein junges Mädchen verschleppt, um es gemeinsam mit seinen Männern zu vergewaltigen, ist ein Unmensch mit den Zügen eines unreifen Jungen, und Penn hält seine Mimik genau im Gleichgewicht zwischen Naivität und mörderischer Kälte, zwischen Jeff Spicoli und Matthew Poncelet. Wenn er zu dem von Michael J. Fox verkörperten Protagonisten sagt: „Das ist eine Waffe“ – und sich dabei zwischen die Beine greift, fasst er das ganze Geschehen des Films in einer einzigen kruden Geste zusammen.

Oder der Ladenbesitzer und Ex-Häftling Jimmy Markum in Clint Eastwoods Film „Mystic River“ von 2003. Als seine Tochter, die seit dem Krebstod ihrer Mutter bei ihm lebt, ermordet wird, begibt sich Jimmy auf eine persönliche Suche nach dem Täter. Er verdächtigt ausgerechnet seinen Jugendfreund Dave, der seit seiner Entführung durch einen Pädokriminellen vor vielen Jahren schwer traumatisiert ist. Auch hier ist es der Zusammenstoß widerstreitender Impulse – Rachsucht, Reue, Trauer, Freundschaft, Zweifel – in seinem Gesicht, durch den Penn seine Figur unvergesslich macht. Wir leiden mit Jimmy Markum, obwohl er zum Mörder wird, denn auch diese Tat kann ihn nicht von seinem Schmerz erlösen. Die Szene, in der er, von Polizisten aufgehalten, in hilflosem Grauen nach seinem toten Kind schreit, ist ins Bildgedächtnis des Kinos eingegangen; und wer sie nicht kennt, sollte sie (wie den ganzen Film) sich unbedingt ansehen.

Für „Mystic River“ bekam Sean Penn seinen ersten ­Oscar, für die Rolle als Harvey Milk, erster homosexueller Bürgermeister von San Francisco, in Gus Van Sants „Milk“ (2008) seinen zweiten. Für den geistig gehandicapten Familienvater Sam ­Dawson, der um das Sorgerecht für seine Tochter kämpft, in „Ich bin Sam“ (2001), den herzkranken Mathematikprofessor Paul Rivers in ­Alejandro ­González Iñárritus „21 Gramm“ (2003) oder den gescheiterten Präsidentenmörder ­Samuel ­Bicke in „Attentat auf ­Richard ­Nixon“ (2004) hätte er ihn ebenso verdient. All diesen Figuren ist gemeinsam, dass sie eine Reibungsenergie erzeugen, die auf den gesamten Cast ausstrahlt. Die Stars, die mit Sean Penn vor der Kamera stehen, werden von seiner Energie spürbar mitgerissen. In „Ich bin Sam“ ist es ­Michelle ­Pfeiffer, die in den Schlüsselszenen auf eine Weise aus sich herausgeht, die man von ihr sonst nicht kennt; in „21 Gramm“ ist es die scheue, zurückhaltende Naomi Watts. Der von manchen Regisseuren gefürchtete Berserker Penn hat nicht nur Kraft für sich allein, er bewegt oft den ganzen Film.

Sean Penn – Amerikas Enfant terrible

Porträt

Sonntag, 18.5. —
23.50 Uhr
bis 15.8. in der
Mediathek

Sean Penn im Smoking mit Oscar-Trophäe in der Hand
Für „Mystic River“ bekam Sean Penn seinen ersten ­Oscar, für⁠ die Rolle als Harvey Milk, erster homosexueller Bürgermeister⁠ von San Francisco, in Gus Van Sants „Milk“ (2008) seinen zweiten.⁠ ⁠Foto: picture alliance/United Archives⁠Foto: picture alliance/dpa

Das gilt auch für die Filme, die er selbst gedreht hat. Mit seinem Regiedebüt „Indian Runner“ (1991), die Geschichte zweier ungleicher Brüder – der eine Polizist, der andere frisch aus dem Knast – in einem Kaff in Nebraska, errang er 1991 einen Achtungserfolg. Den bestätigte er mit „Crossing Guard“ (1995), „Das Versprechen“ (2001) und „Into the Wild“ (2007). Auch hier geht es um Männerkämpfe und Männerträume, nur dass die Stoffe weniger auf Effekt getrimmt sind als im üblichen Hollywoodkino. Man spürt, dass Penn einen Weg sucht, die alten Formeln zu erneuern und gleichzeitig die Lage des Landes zu beschreiben. Besonders gut gelungen ist ihm das in
„Das Versprechen“, einer Verfilmung von ­Friedrich ­Dürrenmatts Erzählung „Es geschah am helllichten Tage“, in der Jack ­Nicholson einen Polizisten aus Reno, Nevada spielt, der kurz vor der Pensionierung noch einmal etwas richtig Gutes tun will, indem er einen Kindermörder findet. Als ihm der Täter, dem er eine Falle gestellt hat, durch Zufall entgeht und er dadurch die Frau verliert, mit der er den Rest seiner Tage verbringen wollte, zerbricht er. Wenn man eines Tages die Klassiker des US-amerikanischen Independent-Films in einer Edition versammelt, wird „Das Versprechen“ dazugehören.

In den zurückliegenden zehn Jahren hat sich der Rhythmus von Sean Penns schauspielerischen Auftritten und Regiearbeiten verlangsamt. Das ist kein Wunder, denn in den dreieinhalb Jahrzehnten zuvor hat er ein Tempo vorgelegt, das selbst ein Kino-­Maniac mit seinen Fähigkeiten nicht ewig durchhalten kann. Dazu kommt, dass er einen Teil seiner Energie für andere Projekte brauchte, mit denen er seinen Ruf als politischer Querkopf und humanitärer Aktivist begründet hat: die Rettungsaktion für die Opfer des Hurrikans „Katrina“ in New Orleans, zu der er 2005 aufbrach, die Hilfe für die Erdbebenopfer auf Haiti, die er fünf Jahre danach mit der von ihm gegründeten Nonprofit-Organisation Core organisierte, die Reisen in den Irak ­Saddam ­Husseins sowie nach Iran und Pakistan, die Freundschaft mit dem venezolanischen Expräsidenten ­Hugo ­Chávez und das umstrittene Interview, das er 2016 mit dem mexikanischen Drogenboss ­Joaquin Guzmán alias El ­Chapo in dessen Versteck führte. Penn hat zudem nicht nur öffentlich gegen die Kriegspolitik der Regierung von ­George W. Bush am persischen Golf protestiert, sondern auch ­Donald Trump als „Staats­feind“ und „gefährlichen Clown“ bezeichnet und sich damit mehr Feinde gemacht als mit jedem seiner Auftritte als Leinwand-­Bösewicht.

Schauspieler Sean Penn in der Rolle als homosexueller Bürgermeister Harvey Milk im Film „Milk
Seine Rollen als homosexueller Bürgermeister Harvey Milk in „Milk“ sowie als Hauptdarsteller in Clint ­Eastwoods „Mystic River“ brachten Sean Penn⁠ zwei ­Oscars und einen Golden Globe ein. ⁠Foto: picture alliance/United Archives

Der Höhepunkt von Sean Penns staatsbürgerlichem Engagement war eine Reise nach Kiew im Februar 2022, die eigentlich dem Dreh eines Filmporträts des ukrainischen Präsidenten ­Wolodymyr ­Selenskyj dienen sollte. Als die russische Invasion begann, blieb Penn mit seiner Crew vor Ort und führte am Tag nach Kriegsausbruch ein Interview mit ­Selenskyj in einem geheimen Bunker. Später ließ er sich auch an die Front fahren. Nach seiner Rückkehr montierte er aus dem Material die Dokumentation „Superpower“, die im Jahr danach auf der Berlinale lief. Auch wenn der Film etwas zu sehr um seinen ­Regisseur und Hauptakteur kreist, gehört er doch zu den frühesten authentischen Zeugnissen aus dem Ukrainekrieg. Als Penn im November 2022 noch einmal nach Kiew zurückkehrte, brachte er dem Präsidenten einen seiner beiden Oscars mit. Nach dem Sieg, sagte er zu ­Selenskyj, könne er die Trophäe zurückgeben.

Sean Penn hat das US-amerikanische Kino der vergangenen 40 Jahre geprägt wie wenige andere. Dass er dabei nicht zum Aushängeschild Hollywoods geworden, sondern ein Außenseiter des Betriebs geblieben ist, spricht für seinen Eigensinn und seine Fähigkeit zur Selbstbehauptung. Beides hat er zuletzt auch wieder in einer Filmrolle bewiesen: In Christy Halls Regie-Erstling „Daddio“, der im Sommer 2024 in die deutschen Kinos kam, spielt er virtuos abgeklärt einen Taxifahrer, der ­Dakota ­Johnson vom Kennedy Airport ins nächtliche Manhattan bringt. Auf der Fahrt erzählen die beiden einander ihr ganzes Leben. Mit hundert anderen Schauspielern würde man sich dabei langweilen. Sean Penn ist der hunderterste: Man bekommt von ihm nie genug.

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