Es war Ungarn, das den Eisernen Vorhang, der Europa trennte, einst zerschnitt. Als erstes Ostblock-Land baute es 1989 seine Grenzanlagen ab und öffnete DDR-Bürgern deutlich vor dem innerdeutschen Mauerfall den Weg nach Westen. Im selben Jahr wurde ein junger Mann namens Viktor Orbán für viele zum Freiheitskämpfer. Am 16. Juni beschwor er – mit Dreitagebart und Vokuhila-Frisur – vor 300.000 Menschen auf dem Budapester Heldenplatz den Geist des ungarischen Aufstands von 1956 und protestierte gegen Kommunismus und Sowjettruppen in seiner Heimat.
Gut drei Jahrzehnte später gelten Demokratie und Rechtsstaat als schwer gefährdet. Bei der Osterweiterung der Europäischen Union 2004 noch Vorzeigekandidat, gehört Ungarn heute im Demokratieindex des Göteborger V-Dem-Instituts als einziges EU-Mitglied zur Gruppe der elektoralen oder auch Wahlautokratien – wie Russland und die Türkei. Hinter dem Absturz vom Musterschüler zum Sorgenkind stehen Viktor Orbán und seine Partei Fidesz. Erstmals von 1998 bis 2002 Ministerpräsident, beherrscht er seit der Rückkehr ins Amt 2010 Politik, Justiz, Medien und weitere öffentliche Bereiche durch Verfassungsänderungen und die Besetzung von Schlüsselpositionen mit loyalen Anhängern. „Illiberale Demokratie“ nennt Orbán selbst sein System eines markigen Rechtsnationalismus: fremdenfeindlich, EU-skeptisch und mit Sympathien für Wladimir Putins Russland.
Und der dienstälteste Regierungschef in der EU lässt keinen Zweifel daran, dass er und die Fidesz gekommen sind, um zu bleiben. „Wir müssen nur einmal gewinnen, dann aber richtig“, lauteten Orbáns Worte vor der erneuten Regierungsübernahme – darauf verweist die Politikwissenschaftlerin Ellen Bos im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Seit 2004 verfolgt sie als Professorin an der privaten Andrássy Universität Budapest die Entwicklung in Ungarn und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. Den Anspruch, 15 bis 20 Jahre die Macht zu halten, habe Viktor Orbán sukzessive verlängert, so Bos. Er habe erklärt, bis 2034 im Amt bleiben zu wollen – und dass eine junge Fidesz-Generation für die nächsten 60 Jahre die ungarische Politik bestimmen werde.
Faire Wahlen faktisch abgeschafft, Institutionen unter Kontrolle: Was nach festem Bollwerk aussah, hat plötzlich jedoch Risse bekommen. Péter Magyar, Ex-Mann einer Ex-Ministerin und lange selbst im Fidesz-Apparat, hat nach einem Justizskandal mit Orbán gebrochen. Er veröffentlicht seither mitgeschnittene Gespräche über korrupte Netzwerke und prangert in Interviews die „ungeheure Bereicherung“ und „Propaganda-maschinerie“ an. Aus Sicht der Expertin liefert Magyar zwar nichts wirklich Neues, aber: „Er ist ein Zeuge aus dem innersten Zirkel der Macht.“ Ellen Bos findet die Situation „spannend: Wir sehen, dass das System Schwachstellen hat.“ Magyar bringt Hunderttausende auf die Straße. Bei der Europawahl kam seine Partei Tisza aus dem Stand auf fast 30 Prozent. Die erfolgsverwöhnte Fidesz fuhr mit knapp 45 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis bei landesweiten Wahlen seit 18 Jahren ein.
SCHWIERIGE KEHRTWENDE
Sind Staat und Gesellschaft autokratisch umgebaut, lässt sich das Rad schwer zurückdrehen, wie sich in Polen zeigt. Acht Jahre lang hatten Regierungen unter Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Viktor Orbán in vielem nachgeeifert. Ende 2023 musste die PiS abtreten, ein Dreiparteienbündnis mit Donald Tusk als Ministerpräsident übernahm. „Die Erwartungen an die neue Regierung sind hoch, da drohen Enttäuschungen“, fürchtet Politologin Bos. Unter Juristen gebe es Debatten über den „rechtsstaatlichen Weg“ zurück zum demokratischen Rechtsstaat – etwa bei der Abberufung von PiS-Gefolgsleuten, die ihre Posten auf lange Zeit erhalten haben.
In Deutschland läuft mit dem „Thüringen-Projekt“ ein Forschungsvorhaben zur Demokratiegefährdung in Echtzeit. Vor der dortigen Landtagswahl fragt ein Team um den Juristen und Verfassungsblog-Betreiber Maximilian Steinbeis: „Was wäre wenn?“ Ohne die AfD zu nennen, ist gemeint: Wie könnte eine autoritär-populistische Partei staatliche Machtmittel nutzen, wenn sie regiert? Zugleich sollen Wege aufgezeigt werden, die Resilienz von Demokratie und Rechtsstaat zu stärken. Das ist auch Ellen Bos wichtig: „Schauen, was wir vorher tun und wie sich Demokratien besser schützen können.“