Vergiftete Saat

In der EU sind viele toxische Insektizide verboten. Doch Industrie und Agrarwirtschaft haben Schlupf­löcher gefunden und setzen sie weiter ein – zu Lasten der Natur.

Blattlaus auf Blatt
Foto: Squawk_ARTE

Als Rachel Carson 1962 in „Silent Spring“ vor einem globalen Insektensterben als Folge des Einsatzes von Pestiziden warnte, wurde sie verspottet. 60 Jahre nach Erscheinen des Buches hat sich die Prognose der US-Biologin bewahrheitet: In der Natur ist es merklich stiller geworden – immer weniger Bienen, Schmetterlinge und Käfer schwirren durch die Luft.

Über die Ursachen des Kerbtierschwunds wird in Fachkreisen gestritten: Manche geben der Erd­erwärmung die Schuld – oder der Urbanisierung, der Lichtverschmutzung, der Abholzung. Die Mehrheit der Forschenden aber hält Insektizide für ursächlich, genauer: sogenannte Neo­nikotinoide (Neonics). Die synthetischen Nervengifte kamen Anfang der 1990er Jahre auf den Markt und wurden von den Herstellern – ­Bayer, BASF und ­Syngenta – als Wundermittel propagiert.

Das war nicht übertrieben: Wie durch ein Wunder blieben mit Neonics behandelte Nutzpflanzen frei von Schädlingen. Agrarbetriebe stellten ihren Pflanzenschutz rasch auf die neuen Insektizide um, da sie hohe Erträge bei vergleichsweise niedrigen Kosten ver­sprachen. Der ARTE-Dokumentarfilm „Insekten­killer: Wie Chemieriesen unser Ökosystem zerstören“ schildert die Entwicklung und lässt sowohl Befürworter als auch Gegner der Neonics zu Wort kommen.

Was die Hersteller lange Zeit verschwiegen: Mit Neonics gebeiztes Saatgut wirkt nicht nur auf dem Acker. Die Gifte sind wasserlöslich, geraten ins Grundwasser, und beim Ausbringen der Saat wird ihr Staub vom Wind verweht. Kein Wunder, dass die Biomasse der Insekten in Deutschland von 1990 bis 2017 um 76 Prozent schrumpfte, wie der Entomologische Verein Krefeld ermittelte. Auch weltweit, so eine Untersuchung der Universität Sydney von 2018, gehen die Populationen von 41 Prozent aller Insektenarten dramatisch zurück. Ein Drittel droht auszusterben.

Damit nicht genug, denn die Apokalypse auf dem Acker löst einen Dominoeffekt aus: Pflanzen, deren Pollen von Insekten transportiert werden, können sich nicht mehr vermehren, falls keine anderen Bestäuber die Lücke füllen – in Europa gilt das laut Pestizid­atlas 2022 für 80 Prozent der Wild- und Kultur­pflanzen. Tiere, die sich von diesen Pflanzen oder ihren Früchten ernähren, müssen ihre Fress­gewohnheiten ändern und sich notfalls andere ­Habitate suchen. Vögel, die Insekten, deren Larven oder Raupen verzehren, finden weniger Nahrung für sich und die Nachkommen, sodass ihre Bestände ebenso bedroht sind wie die jener Süßwasserfische, die sich ebenfalls von Insekten und Larven ernähren. Kurzum: „Neonics verursachen immense Kollateralschäden“, sagt ­Dave ­Goulson, Professor für Ökologie an der Universität von Sussex. Er nennt sie deshalb: „Nowitschok für Insekten“.

Der Entomologe ­Martin Sorg gibt die Hoffnung noch nicht auf, fordert aber: „Wir benötigen einen die Biodiversität fördernden, pestizidfreien Ackerbau innerhalb der Schutzgebiete und dazu Pufferzonen, um Lateral­effekte auf wertvolle Nachbarbiotope zu mindern. Also ein ausreichendes Risikomanagment“, sagt Sorg im Gespräch mit dem ARTE Magazin.

Insektenkiller: Wie Chemieriesen unser Ökosystem zerstören

Dokumentarfilm

Dienstag, 5.7. — 20.15 Uhr

bis 3.8. in der Mediathek

Illustration von einem Reagenzglas mit einem Gras und toten Fliegen
Illustration: Andrea Ucini

Verbote – Ausnahmen – Exporte

Immerhin: Der Einsatz der Neonikotinoide Clothianidin, Imidacloprid und Thiametoxam ist in der EU seit 2018 nicht mehr erlaubt – zumindest im Freien. In Gewächshäusern dürfen sie noch genutzt werden, obwohl Abbauprodukte der Substanzen in Lebensmitteln nachgewiesen wurden und der Verdacht besteht, sie könnten das menschliche Nervensystem schädigen. Gleichwohl erteilte die EU in den vergangenen Jahren Ausnahmegenehmigungen, etwa für den Anbau von Zuckerrüben. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) winkte entsprechende Anträge mit der Begründung durch, dass „für die Sicherung der nötigen Erträge keine anderen Methoden vorhanden“ seien. Erst Ende 2021 schwenkte die EFSA um: Für 2022 wurden bislang keine Ausnahmen genehmigt.

Derweil machen die Konzerne mit dem Export von Neonics weiterhin Geschäfte. Vor allem nach Brasilien, Indonesien und Russland sowie in afrikanische Staaten wie Südafrika, Ghana und Mali werden die Gifte verkauft, wie Recherchen der Organisation Public Eye 2021 ergaben. Am Ende landet das behandelte Obst oft wieder auf unseren Tellern: Laut einer Greenpeace-Studie fanden sich in 59 Prozent aller aus Brasilien nach Deutschland importierten Früchte gefährliche Pestizide, mehr als die Hälfte davon ohne EU-Zulassung. 95 Prozent der eingeführten Papayas waren belastet, bei Mangos waren es 75 Prozent. So wird der Giftexport zum Bumerang.