Wider die Prüderie

Sinnbild der sexuellen Revolution oder plumpe Erotik? Was der Blockbuster „Emmanuelle“ über den Zeitgeist der 1970er Jahre und die Schatten schiefer Macht­verhältnisse erzählt.

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Emmanuelle (­Sylvia ­Kristel) und ihr Strand-Gespiele Jean (Umberto Orsini) in „­Emmanuelle 3“ von François Leterrier. Die Filmmusik schrieb Serge Gainsbourg. Foto: George Pierre / Bridgeman Images

Für kaum eine Minute hat die junge Frau alle Macht der Welt. Namenlos wie das Rumpelstilzchen und schöner als jede Märchenprinzessin erwacht sie für die Kamera, die gerade von den Pariser Dächern hereinschwebt. Die Frau steht am Vorhang – und ihre Schönheit ist kein Märchen, sondern ein Ereignis. Es ist, als würde ein 1970er-Weichzeichner ihr rötlich-brünettes kurzes Haar und die feinen Gesichtszüge nur umso wirklicher werden lassen. Ein Blinzeln, ein Gähnen. Ein Blick durchs Fenster. Dann steht ­Sylvia ­Kristel im Bild, aber das ist noch kein entzaubernder Name, eher eine Verheißung. Rasch die roten Socken unter den geblümten Morgenmantel gezogen, ein paar Bürstenstriche durchs Haupthaar, treppab ins Wohnzimmer gehüpft.

Die Ewigkeit sollte ein Einsehen haben und diese erste, noch ganz frische Minute im Bildgedächtnis der Menschheit für sich stehen lassen. Doch, ach, es muss sein: Dick und weiß erscheint der Schriftzug „­Emmanuelle“. Wie ein nüchterner Triumph über die staatliche Prüderie dazu die Nummer des „visa de censure“. Ein Chanson von ­Pierre ­Bachelet beginnt, er besingt ­Emmanuelle – und von diesem Zeitpunkt an wird sie nie mehr verschwinden.

Denn sie ist, jedenfalls als Ikone, von Männern geboren, und solche Geschöpfe sind hartnäckig, lehrt die Geschichte. Immerhin: Wir können nichts für unsere Eltern, das gilt auch für Fantasiegestalten. Lassen wir die Frage beiseite, ob die aus Thailand stammende Diplomatengattin ­Marayat Rollet-­Andriane unter dem Pseudonym ­Emmanuelle ­Arsan (alleinige) Autorin der erotischen Bildungsromane war, auf denen der Film basiert. Oder ob auch hier schon ein Mann, nämlich ihr Ehemann, seine Finger und Gelüste im Spiel hatte. Fakt ist, dass sich der aufstrebende Filmproduzent ­Yves Rousset-­Rouard im Jahr 1973 in den Kopf setzte, den gerade zurückliegenden Skandalerfolg von „Der letzte Tango in Paris“ zu überbieten. Ein Erfolg, der auch auf einer realen Vergewaltigung gründet, wie wir heute wissen. Der Analverkehr mit Butter als Gleit­mittel war zwar nur simuliert, die Szene aber mit ­Maria ­Schneider nicht abgesprochen. Der Schatten schiefer Machtverhältnisse liegt auf der gesamten Sexwelle der Siebzigerjahre, vom Autoren­kino bis zum Hardcore­porno. Zahlreiche Schauspielerinnen wie etwa ­Linda ­Lovelace, die Hauptdarstellerin von „­Deep Throat“ (1972), haben später ausgesagt, im Kontext von Dreharbeiten Gewalt erfahren zu haben.

Emmanuelle – Königin des Softpornos

Porträt

Freitag, 25.6. — 21.45 Uhr
bis 23.8. in der Mediathek

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Nach dem Erfolg von „­Emmanuelle“ drehte die Niederländerin ­Sylvia ­Kristel noch zahlreiche Fortsetzungen – sowie diverse weitere Erotikfilme. Foto: Christian SIMONPIETRI / Sygma / Getty Images

Eine unbestimmte Aufgekratztheit
Was war das für eine Zeit? Mädchen entdeckten ihr Begehren unter dem Damoklesschwert einer ungewollten Schwangerschaft. Die Pille war gerade erst auf dem Markt, Sexualerziehung noch ganz neu. Frauen wussten oft wenig über ihren Körper. Männer gaben sich vielleicht kompetent, wussten aber nicht viel mehr. Sex war, zumindest im progressiven, urbanen Milieu, nicht mehr tabuisiert, aber jeder hatte das Tabu noch erlebt.

Es ist so eine Sache mit der Hoffnung, wenn sie ein kollektives Gefühl wird. Sie ist nicht das Gute, sie ist nicht die Freiheit; sondern die Sehnsucht, dass alles gut und alle frei sein können. Am wahrhaftigsten wirkt sie, wenn sie noch nicht zum Weltbild geronnen ist. Man spürt eine unbestimmte Aufgekratztheit, eine positive Unruhe, die Kreativität triggert, auch zu Missbrauch verführt, der aber in der allgemeinen Aufbruchsstimmung erst einmal kaum sichtbar wird. So muss es sich ungefähr angefühlt haben, damals, als ­Yves Rousset-­Rouard beschloss, ein eigentlich unmöglich scheinendes Ding zu erschaffen: den Arthouse-Erotic-Blockbuster. Für einen Schnäppchenpreis sicherte er sich die Filmrechte am ersten Emmanuelle-­Roman. Doch wie wird daraus ein Hit? Das Rezept laut ­Clélia ­Cohens Dokumentation, die ARTE im Juni zeigt: ein renommierter Schauspieler. Der etwas hüftsteife reife Mann ­Alain ­Cuny übernahm die Rolle als Zeremonienmeister der erotischen Initiation. Was noch? Ein Regisseur mit künstlerischem Anspruch. Der Architekt Just ­Jaeckin war bislang vor allem als Modefotograf in Erscheinung getreten und ein eher schamhafter Mensch. Aber er besaß ein Gespür für Bilder, wusste Frauen zu idealisieren. Rousset-­Rouard bekniete ihn, ­Jaeckin willigte schließlich ein. Zu verlockend die Chance, einen abendfüllenden Spielfilm zu drehen.

Fehlt die vielleicht wichtigste Zutat: ein neues weibliches Gesicht. „Unverbraucht“, wie so schrecklich gesagt wird. Es fand sich das Model ­Sylvia ­Kristel. Keine Asiatin (wie die Figur in der literarischen Vorlage), nicht einmal Französin. Aber gesegnet mit einer jugendlichen Anmut, die gegen den Verdacht der Pornografie immun ist. Ab ging es mit kleiner Crew nach Thailand. Thailand, Europäer und Sex – es ist einem heute nicht wohl bei dieser Kombination. Heute? Nun, damals auch nicht. Vor 50 Jahren war die Gesellschaft schon einmal sehr politisiert, man vergisst das ja gerne. In der Zeitschrift Frauen und Film hieß es 1974: „‚­emanuela‘ ist das produkt einer korrupten männerfantasie. […] ausserdem ist der film nicht nur sexistisch – frauen sind in der tat nur objekt – sondern auch rassistisch […]. mit der eintrittskarte kaufen wir einen werbeprospekt für die immer beliebter werdenden (herren)-reisen in die freie weite welt eines entwicklungslandes im fernen osten, wo frauen ständig verfügbar sind.“ Was soll man sagen – ganz falsch lagen die aufrechten Zweite-Welle-Feministinnen nicht. Oder wie wäre es sonst zu verstehen, dass Asiatinnen nur als Bedienstete vorkommen, während der Plot im Kreis saturierter weißer Expats spielt?

›emanuela‹ ist das produkt einer korrupten männerfantasie

Frauen und Film, 1974
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Foto: Douglas Kirkland / Corbis / Getty Images

Exotistische Klischees als gezielte Reize
Ganz zu schweigen von der berühmten Bar-Szene. Der keusche ­Jaeckin drehte sie lieber nicht selbst, heute wird sie von unzähligen Amateurinnen auf den einschlägigen Internetportalen kopiert: Eine sehr junge thailändische Strip-Club-Tänzerin zieht mit ihrer Vagina an einer Zigarette. Die exotistischen Klischees gehören zu den gezielt gesetzten Reizen der Story. Andererseits: Objekt ist in dieser schwelgerischen Fiktion potenziell jeder. Besser gesagt: Die Trennung von Subjekt und Objekt trägt hier nicht weit. Japanische Zuschauerinnen, erzählte ­Kristel in einem Interview, applaudierten im Saal, als sich ­Emmanuelle auf ihren Mann schwingt. Sie verstanden es als Dominanzgeste. Die Geschichte von der unschuldigen, abenteuerlustigen Diplomatengattin, die im geheimnisvollen Fernen Osten die Geheimnisse der Liebeskunst entdeckt, ist purer, zum Unterhaltungsfilm verdichteter Zeitgeist.

Klar, dass sich darin emanzipatorische Motive und eine affirmativ-­männliche Imagination überlagern. Schwules Begehren kommt zum Beispiel nicht vor; der lesbische Sex lässt sich wiederum nicht einfach als Schauwert für den ­männlichen Blick abhaken. Die Archäologin Bee ist der einzige wirklich starke Charakter des Films. Akademisch gebildet, berufstätig, sexuell an Frauen interessiert, aber sehr auf Unabhängigkeit bedacht. ­Emmanuelle verliebt sich in sie, wird aber nach einem One-Night-Stand zurückgewiesen. ­Marika Green spielt diese Bee. Ein dynastischer Witz der Filmgeschichte: Ihre Nichte, Eva Green wird später als ­Vesper Lynd in „Casino Royale“ (2006) die erste Frau sein, die dem Übermann James Bond auf Augenhöhe begegnet und ihn in ihrem Tod als Verlierer zurücklässt.

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Die „Emmanuelle“-Filme platzten in die Emanzipations­bewegung der 1970er Jahre – hier eine Demonstration für Frauenrechte im Jahr 1979 in Paris. Foto: KEYSTONE FRANCE / Gamma Rapho / Getty Images

„Emmanuelle“ ist, genau wie Bond übrigens, eine ungebrochen eurozentrische Erzählung und zugleich das Versprechen universeller Freiheit. Wer aus dem Pariser Bilderbuch-­Appartement nach Thailand aufbricht, landet in einer eleganten eskapistischen Utopie. Jede Begegnung birgt die Option auf spontanen Sex im stillen Einverständnis. ­Sylvia ­Kristels ­Emmanuelle ist nie vulgär, aber immer neugierig, weshalb sie auch dann selbstbewusst wirkt, wenn sie sich als Trophäe nehmen lässt. Der Quickie im Flugzeug entpuppt sich als Traumsequenz. Und ist damit ganz dicht am platonischen Ideal der projizierten bewegten Bilder. Denn das Kino besitzt die Macht, zum Träumen anzuregen. Millionen von Menschen weltweit spürten diese Macht, wollten sich darin verlieren. Paare gingen ins Kino, brave Bürger. Über Jahre lief der Film in Paris und wurde für eine Weile zur Sehenswürdigkeit der Libertinage, wie das ­Moulin ­Rouge. Fortsetzungen und eine Flut von Exploitation-Streifen folgten (wie etwa ­Laura ­Gemser als „Black ­Emanuelle“ – nur echt gefälscht mit einem m). In den 1990ern waren die Original-Reihe und all die billigen Kopien häufig im Nachtprogramm der privaten Fernsehsender zu sehen. Unterbrochen von Telefonsexwerbung. Das Publikum nicht selten: Teenies, die sturmfrei hatten. Die zwischen Trash und Kunstanspruch changierende Ästhetik des Erotikfilms prägte noch die pubertierenden Kinder der 1980er. Erst das Internet implantierte den Hardcore-­Porno in die Köpfe. Kein Weihrauch des Schöngeistigen vernebelte mehr die Bilder.

Aber die Filme träumen weiter, in „Emmanuelle 2“ schwenkt die Kamera auf die Spielwiese eines Hongkonger Bordells. Die Körper winden sich theatralisch, reiben einander mechanisch. In einer anderen Szene wirft die orgasmierende Frau wie besessen ihren Kopf hin und her. Das ist kein Sex, eher eine expressionistische Choreografie. „Metropolis“ grüßt vage aus der Ferne. Im Bilderatlas der Ekstase darf ­„Emmanuelle“ nicht fehlen. ­Sylvia ­Kristel hingegen gehört die ewige erste Minute.