Frieden mit Foulspiel

Nach dem Ersten Weltkrieg besiegelten die westlichen Siegermächte das Schicksal des Osmanischen Reiches. Türken und Araber sehen sich bis heute um Land und Rechte betrogen.

Osmanen
Illustration: Nazario Graziano

Mitte August 2020, inmitten des aktuellen Streits zwischen Griechenland und der Türkei um die energiepolitische Nutzung des östlichen Mittelmeers, verblüffte der türkische Präsident ­Recep ­Erdoğan westliche Beobachter mit einer historischen Parallele: Wie schon im Jahr 1920 werde sich sein Land auch jetzt nicht vom Westen kleinhalten lassen. Der Hinweis auf den 1920 unterzeichneten Vertrag von Sèvres begeisterte seine Anhänger. Verschwörungstheorien über Pläne zur Destabilisierung der Türkei erfreuen sich seit Langem großer Beliebtheit. Ein Narrativ, das ­Erdoğan besonders nachdrücklich und oft vertritt. Als „Sèvres-Syndrom“ bezeichnet, geht die Angst vor westlicher Einmischung auf die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück, in dem die Alliierten, insbesondere Großbritannien und Frankreich, tatsächlich die Zerschlagung des Osmanischen Reiches dezidiert planten.

Im August 1920, mehr als ein Jahr nach dem Versailler Vertrag, schlossen die siegreichen Alliierten ein Friedensabkommen mit der Regierung von Sultan ­Mehmet VI. Der in einer Porzellanfabrik unterzeichnete Vertrag von Sèvres schien die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen: Er ließ den Türken nur ein Drittel Anatoliens, die arabischen Territorien wurden Konstaninopels Kontrolle entzogen. Die Griechen erhielten Smyrna, das heutige Izmir, samt Umland. Die Armenier bekamen ein großes Gebiet in Ostanatolien zugesprochen. Kurdistan sollte eine autonome Region werden. Die Meerenge des Bosporus wurde unter internationale Verwaltung gestellt. Sowohl Frankreich als auch Italien erhielten strategische Besatzungszonen im südlichen Anatolien.

Die Beschlüsse des Vertrags riefen bei den besiegten Türken blankes Entsetzen hervor. Der bewaffnete nationale Widerstand unter ­Kemal ­Atatürk sollte in den folgenden Jahren zum Sturz des Sultans, zur Vertreibung nahezu einer Million christlicher Bürger des Osmanischen Reiches, zur Ausrufung der Türkischen Republik und zu einem zweiten Friedensschluss führen. Einen dauerhaften Frieden brachte allerdings auch dieser 1923 unterzeichnete Vertrag von Lausanne nicht. Insbesondere in den einst osmanisch beherrschten arabischen Gebieten kommt es seither mit großer Regelmäßigkeit zu Gewaltausbrüchen: Bürgerkriege in Syrien, Irak und Libanon sowie gewaltsame Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern wegen der Palästinafrage.

Blutiges Erbe | Das Ende der Osmanen

Geschichtsdoku

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Erdoğans geostrategische Ambitionen
Nicht nur Präsident Erdoğan begründet seine geostrategischen Ambitionen gern mit Verweisen auf die historischen Ungerechtigkeiten. Der sogenannte Islamische Staat betonte oft, dass es ihm in erster Linie um die Revision des nach den beiden verhandelnden Diplomaten benannte „Sykes-­Pikot-Abkommens“ von 1916 gehe, in dem die Aufteilung des Nahen Ostens in westliche Interessensgebiete beschlossen wurde. Der Geheimpakt sicherte London die Kontrolle über den an Ölvorkommen reichen heutigen Südirak, Paris dagegen behielt Einfluss im Großteil des heutigen Libanon und an der syrischen Küste bis hoch nach Kilikien. Palästina unterdessen sollte unter internationale Verwaltung gestellt werden.

Problematisch war nicht nur der pikante Inhalt des Abkommens, sondern auch, dass die Alliierten gleichzeitig widersprüchliche Versprechungen an Araber und Juden machten – in der Hoffnung, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zum Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen. Als Gegenleistung hatte der britische Hochkommissar für Ägypten, Sir ­Henry ­McMahon, dem einflussreichen Haschemitenführer ­Hussein ibn Ali 1915 schriftlich die „Unabhängigkeit der Araber“ in Aussicht gestellt. In den darauffolgenden Jahren kämpften irreguläre arabische Verbände, angeführt von ­Hussein ibn ­Alis Sohn ­Faisal auf dem zukünftigen Staatsgebiet Saudi-Arabiens, Jordaniens und Syriens gegen osmanische Truppen.

Noch vor Ende des Krieges aber gab London ein weiteres Versprechen, welches den an die Haschemiten gegebenen Zusagen klar zuwiderlief. So sicherte der britische Außenminister ­Arthur ­Balfour in einem Brief an ­Lionel ­Rothschild die Unterstützung seiner Regierung bei der „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ zu. Der lange Schatten des Ersten Weltkriegs und der Friedensverträge von Paris ist im Nahen Osten und in der Türkei bis heute deutlich zu erkennen. Wer die Konflikte in der Region verstehen will, kommt um die Ereignisse vor hundert Jahren nicht umhin.

Verschwörungstheorien erfreuen sich in der Türkei großer Beliebtheit

Robert Gerwarth, Historiker