Wie die Oper, so das Leben

Sie zählt zu den erfolgreichsten Diven der Gegenwart: Anna Netrebko. Auf ARTE singt die Sopranistin in Giacomo Puccinis Oper „Tosca“ die Hauptrolle. Was ist ihr Erfolgsrezept­?

Anna Netrebko
Die Sopranistin Anna Netrebko während der Generalprobe für den Opernball 2019 in der Wiener Staatsoper. Foto: picture alliance_Hans Punz_APA

Eine schwarzhaarige Frau im Faux-Fur-Mantel mit Leopardenmuster überquert den Wiener Opernring in Richtung Staatsoper – gefolgt von einem Pulk Verehrer. Der Verkehr stockt. „Anna! Anna!“, ruft es aus den Autos, manche hupen dazu. Anna Netrebkos Blick wirkt leicht panisch. Mit leiser Stimme sagt sie: „Aber die kenne ich doch alle nicht!“ Erleichtert tritt sie wenig später durch den Hintereingang ins Innere des Opernhauses.

Auch abseits der Bühne erlebt man bei Treffen mit ­Anna ­Netrebko Szenen mit einer gewissen Dramatik – fast wie in der Oper. Dabei waren Primadonnen immer schon Objekte der Vergötterung, man duellierte oder erschoss sich für sie, spannte ihnen die Pferde aus und zog selbst die Kutsche. Journalisten zeigen sich geradezu berauscht von der bald 50-jährigen Netrebko mit ihren „glockenreinen“, „laser-perfekten“ Spitzentönen (Spiegel) und feiern ihre „Stimme aus diamantbesticktem Samt“ sowie deren „dramatische Intensität“ (FAZ). Komplimente kümmerten ­Netrebko nie wirklich, mitunter tat sie sie sogar als „Bull­shit“ ab. „Von zehn Auftritten sind zwei spitze“, konstatierte sie einmal mit der Nüchternheit einer Perfektionistin.

Vieles an dieser pragmatischen Einstellung ist vermutlich ihren Erfahrungen in der Sowjetunion geschuldet, wo sie aufwuchs, und ihrem bodenständigen Elternhaus. Die früh verstorbene Mutter war Ingenieurin, der Vater Geologe. Der Beginn ihrer Laufbahn war alles andere als strahlend. „Vergiss es!“, habe man ihr am Konservatorium in St. Petersburg gesagt, sie sei „kein Naturtalent“. Im Westen allerdings wurde ihr Aufstieg als eine Art Aschenbrödel-Märchen verkauft. Und das Märchen ging so: ­Anna ­Netrebko schrubbte im St. Petersburger Mariinski-­Theater die Treppen. Ausgerechnet dort soll der mächtige Herr des Hauses, ­Valery ­Gergiev, sie entdeckt haben. ­Netrebko korrigiert: „Vorgesungen habe ich ihm erst später, als ich gar nicht mehr geputzt habe.“ Wahr aber ist ihr fulminantes Debüt als Donna Anna in Mozarts „Don Giovanni“ unter ­Nikolaus ­Harnoncourt bei den Salzburger Festspielen 2002. Am nächsten Tag sprach ganz Salzburg und kurz darauf die ganze Welt von ihr. Das hatte es seit ­Herbert von ­Karajan nicht mehr gegeben.

Russischer Humor ist sehr dreckig, düster, manchmal sehr derb

Anna Netrebko, Sopranistin
Anna Netrebko, Porträt
Sopranistin Anna Netrebko wird vermarktet und gefeiert wie ein Popstar. Auf ihren Social-Media-Kanälen inszeniert sich die Künstlerin makellos – in einer Welt voller Glamour. Foto: Juergen Frank_Contour RA_Getty Images

Vermarktet wie ein Popstar
Geleitet von der Sehnsucht nach einer zweiten ­Maria ­Callas, der wohl bedeutendsten Sopranistin des 20. Jahrhunderts, und gelenkt von Marketingprofis stieg ­Netrebko zum Superstar auf. Ihr Porträt prangte an Litfaßsäulen und auf Titelblättern – von Vanity Fair bis Harper’s Bazaar. ­Netrebko gefiel sich in der Rolle der „heißen […] Opernbraut“ (Welt). Von ihren Alben verkauften sich stets mehr als 100.000 Stück – im Klassiksegment eine sensationelle Zahl. Tickets ihrer Auftritte wurden auf dem Schwarzmarkt teils für 5.000 Euro angeboten. Zudem ließ sie sich von einem ehemaligen Investmentbanker der Wall Street vermarkten. Sie räkelte sich mit Lolita-­Blick auf Eisbärenfellen für die Seiten der CD-Booklets, gab zweideutige Interviews, ließ sich wie ein Popstar in Szene setzen. Sie wurde zur öffentlichen Person. ­Anna überall. In Opernhäusern und Fußballstadien, auf Plakaten von Mobilfunkanbietern und TV-Spots für Haarshampoo. Fröhlich, furchtlos und immer fotogen. „Glauben Sie, ich bin eine Person, die dazu neigt, Angst zu haben?“ Nicht unbedingt, wie eine Anekdote aus ihrer Kindheit zeigt. Da habe sie, so erzählte sie in einem Interview, ihre Freunde zu ihrem siebten Geburtstag eingeladen, obwohl sie gar keinen Geburtstag hatte. „Aber ich wollte, dass alle kommen, mit mir spielen und Geschenke bringen.“ Als die Freunde vor der Tür standen, hätten die Eltern mitgespielt. „Eine schöne, kleine Oper.“

Anna Netrebko, Yusif Eyvazov
Mit ihrem Mann, dem aserbaidschanischen Tenor ­Yusif ­Eyvazov tritt sie oft gemeinsam auf, unter anderem in Giacomo Puccinis Oper „Tosca“ bei den Salzburger Festspielen 2021, die ARTE ausstrahlt. Foto: Julian Hargreaves

Mit Pelz, Poncho und Sahne-Eisbecher
Bunt wie ein Kindergeburtstag sind auch Anna ­Netrebkos Auftritte auf ihren Social-Media-Kanälen. Zu sehen: eine Instagram-Oper mit rund 700.000 Followern. Mit schwarzem Hut und dramatisch roter Feder neulich bei den Bocellis, vor dem Sahne-Eisbecher mit ihrer Schwester im „most expensive coffeeshop“ von Venedig. Im Pelz durch die Innenstadt von Moskau und im Inka-Quechua-Kostüm zwischen Kakteen in Peru. Mit Poncho und Hotpants im Burger-Restaurant und dann am Dirigentenpult. Sie küsst, flirtet und witzelt gerne auf den Internetplattformen. „Russischer Humor ist dreckig, düster, manchmal sehr derb“, sagt sie. Oft in ihrem Schlepptau: der aserbaidschanische Tenor ­Yusif ­Eyvazov, den sie 2015 in Wien heiratete – mit Barockfeuerwerk, versteht sich. 2.250 Effektschüsse, 200 Lichterlanzen, 40 Feuertöpfe und 30 Feuerwerks-Vulkane wurden im Palais Liechtenstein gezählt.

Aus dem It-Girl der Opernwelt ist längst eine reife Künstlerin geworden, die den „Schwachsinn über die ‚Sexy Diva‘ nicht mehr lesen“ mag. Die Zeit der süßen Mädels, der keuschen Paminas, somnambulen Aminas von ­Bellini, todkranken Mimis („La Bohème“) und Violettas („La Traviata“)­ ist vorbei. Heldinnen, „die nur schmachten“, findet sie ohnehin öde. Seit einigen Jahren sei sie auf dem Weg zur „hässlichen Stimme“, zur hochdramatischen – wie einst die ­Callas, die selbst nie „schön“ sang. Um den Thron der Primadonna assoluta zu verteidigen, braucht es amoralische Prophetenmörderinnen wie ­Salome von ­Richard Strauss und die vokalen Schwergewichte ­Verdis. So etwas wie die wahnsinnige ­Lady ­Macbeth, die sich ­Verdi „hässlich und böse“ wünschte, mit „rauer, erstickter, dumpfer Stimme“. Das ist metaphorisch gemeint, doch ­Netrebko hat verstanden. In vielen Verdi-Partien hat sie bereits bewiesen, dass sie ihre Stimme schwarz düster flackern lassen kann. Nun steht eine weitere Opernmegäre an, die vor Eifersucht rasende und in Angst sich verzehrende ­Floria ­Tosca von ­Puccini, die sie bei den Salzburger Festspielen verkörpert. Tragen wird sie dabei ein Kleid aus 30 Meter spanischem Seidensatin und französischer Spitze, auf dem rund 40.000 Kristalle appliziert sind. Folter, Wollust, Mord, Eifersucht, Verzweiflung – alles ist drin in dieser Oper, bei der am Ende alle tot sind. Ehemann ­Yusif ­Eyvazov mimt den treuherzigen Maler ­Mario ­Cavaradossi. „­Anna ist meine große Schule“, sagt er. „Sie lehrt mich so viel, oft ohne es auszusprechen.“

Ihren 50. Geburtstag im September wird ­Netrebko auf dem Roten Platz in Moskau feiern. Trotz österreichischem Pass und Kammersängerin-Titel bleibt sie eine „Volkskünstlerin Russlands“ – ein Titel, den ihr 2008 der russische Präsident ­Wladimir ­Putin persönlich verliehen hat. Ihre damalige Unterstützung im Putin-Wahlkampf brachte sie im Westen in die Bredouille. Heute vermeidet sie es, über Politik zu reden.

Die Bühne, sagt Anna Netrebko, sei „wie eine Droge“. Doch sie weiß, dass diese Zeit irgendwann mal ein Ende hat. „Hoffentlich bin ich stark genug, die Bühne zu verlassen, bevor das Publikum es will.“