Wenn Hilary Mantel (1952–2022) mit ihren Lesern sprach, waren die oft überrascht, wie viele Bücher sie schon geschrieben hatte. Zeitgenössische Romane etwa, Geschichten, die von der ruppigen Realität der britischen Unterschicht handeln, und manchmal auch von ihrem eigenen Leben. Diese Bücher wurden gut besprochen, verkauften sich aber nicht unbedingt. Von Weltruhm jedenfalls war die Autorin weit entfernt. Das änderte sich, als 2009 ihr Roman „Wolf Hall“ (auf Deutsch: „Wölfe“) erschien: ein Wälzer über den Tudor-Strippenzieher Thomas Cromwell, dem später noch zwei weitere Bände folgten. Es war ein Thema, das Mantel nie mehr abschütteln sollte – oder wollte.
„Er spricht zu mir, ich höre zu“, so hat sie die Arbeit an der Figur einmal beschrieben. Naheliegend war die Wahl nicht, schließlich besaß Thomas Cromwell (1485–1540) bis dahin einen eher unangenehmen Ruf, war als skrupelloser Machtpolitiker in die Geschichte eingegangen. Man kannte ihn vor allem dafür, dass er Henry VIII. regelmäßig neue Ehefrauen beschaffte – und die alten zur Not per Schafott loswurde. Doch Mantel machte ihn zum ambivalenten Charakter und verlieh dem unter Kitsch-Verdacht stehenden historischen Roman eine moderne Stimme. Alles Fiktive bog sie so, dass es sich in die belegten Fakten fügte. Nur wenn es keine Quellen gab, dachte sie sich etwas aus.
Das Ergebnis ist die Geschichte eines Aufstiegs: Moralisch mit einiger Flexibilität ausgestattet, wird Thomas Cromwell vom Teenager, der dem gewalttätigen Vater davonläuft, zum Soldaten, Händler, Anwalt. Er etabliert sich als rechte Hand des Kardinals Wolsey und dient irgendwann dem König selbst. Mal ist er Berater, mal Kummerkasten. Er organisiert den Bruch mit dem Papst, damit Henry VIII. seine erste Frau verlassen und Anne Boleyn heiraten kann. Nebenbei reformiert er das Verwaltungswesen und steigt zum zweiten Mann im Staat auf. Bei Mantel ist Cromwell zwar ein absolut kalkulierender Mensch – aber einer, der aus einem Gefühl von Notwendigkeit handelt.
Gut möglich, dass die Autorin den Drang, den eigenen Umständen zu entkommen, nachvollziehen konnte. „In meiner Kindheit dachte ich, England sei woanders“, hat sie einmal gesagt. Denn als typisch englisch galten fluffig-weiße Wolken und Rosen vor dem Cottage. Mit ihrem Leben in einer Industriestadt in Mittelengland hatte das wenig zu tun. Dort arbeitete man in der Fabrik, die Klosterschule bedeutete Schikane. Mantel studierte Rechtswissenschaft an der London School of Economics, hatte aber nicht genug Geld, um die Juristenausbildung abzuschließen. Während eines Jobs als Verkäuferin begann sie ihr erstes Buch. Später machte sie sich einen Namen als Literaturkritikerin.
Auf dem Höhepunkt der Macht
Dass sie schließlich nicht einmal, sondern gleich zweimal den Booker-Preis bekam, für „Wölfe“ und den Nachfolger „Falken“, war ihr größter Triumph. Außer ihr haben das nur drei andere Schriftsteller geschafft. Die „Wolf Hall“-Bücher wurden zu Bestsellern, verkauften sich mehr als fünf Millionen Mal. Adaptiert wurden sie unter anderem für eine Serie, die ARTE im September zeigt.
Nach neunjähriger Pause schließt nun die zweite Staffel die TV-Reihe ab. Basierend auf dem letzten Band der Trilogie, „Spiegel und Licht“, ist sie ein düsteres Stück Fernsehen. Cromwell, der Henrys Hochzeit mit der jungen Jane Seymour arrangiert hat, befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Von dort geht es nur noch nach unten: Wer die Historie kennt, weiß, dass auch er seinen Kopf verlieren wird. Bilder der Hinrichtung von Anne Boleyn tauchen wie blutige Vorahnungen auf. Folgt man Mantel, ist Cromwells Problem in erster Linie, dass er ohne einflussreiche Familie dasteht, als Henry sich von ihm abwendet. Selfmademen waren im 16. Jahrhundert nicht vorgesehen. Auch darum ist sein Sturz wenig überraschend – eher noch, dass er sich überhaupt so lange an der Spitze halten konnte. „Ich habe dem König gegeben, was er verlangt“, sagt er in der Serie zu einer Vertrauten. „Ich frage mich, ob er euch das jemals vergeben wird“, entgegnet sie.
Ein eitler und launischer Herrscher, ein politisches Personaltableau, das nach Belieben neu arrangiert wird: Man braucht nicht viel Fantasie, um Parallelen zum Weltgeschehen zu ziehen. Doch auf die Gegenwärtigkeit ihrer Materie angesprochen hat Hilary Mantel stets abgewinkt. Sie schreibe über die Vergangenheit. Seine Gedanken dürfe das Publikum sich aber trotzdem machen. Vielleicht steckt auch das hinter dem Erfolg des Stoffs: dass der Wille zur Macht zeitlos ist.





