Man kann behaupten, dass Zaho de Sagazan eine ziemlich ungewöhnliche Popsängerin ist. Zum einen, weil sie es geschafft hat, das französische Chanson rundzuerneuern: seine emotionalen Melodien mit einem von Kraftwerk inspirierten Elektro-Sound zu vereinen. Aber auch, weil nichts an ihr an die gut kalkulierten Stars der Gegenwart erinnert. An Entertainerinnen wie Taylor Swift, bei denen auf der Bühne kein Haar verrutscht. De Sagazan mag bei den Olympischen Spielen gesungen, Konzerte in New York ausverkauft und für ihr Debütalbum „La Symphonie des éclairs“ zweifach Platin bekommen haben: Sie wirkt trotzdem immer ein bisschen wie jemand, der um die Ecke wohnt. Die 25-Jährige spricht über Unsicherheiten und ihr Ringen mit Hypersensibilität, ihre Konzerte muten eher spontan als choreografiert an. Das Ungekünstelte ist ihr Markenzeichen. Wie stark das wirkt, zeigte ihr Auftritt bei den Filmfestspielen in Cannes. Dort verdutzte sie das Publikum, indem sie zu David Bowies „Modern Love“ die Schuhe abstreifte und auf Socken tanzte. Die US-amerikanische Regisseurin Greta Gerwig, Vorsitzende der Festival-Jury, rührte die Aktion zu Tränen; ein Video davon wurde unzählige Male geteilt. Seit ihrem Durchbruch im Jahr 2023 ist Zaho de Sagazan fast ununterbrochen getourt. Nun wagt sie ein Experiment. Die Songs ihres ersten Albums hat sie erneut aufgenommen, und zwar in einer orchestralen Version: „La Symphonie des éclairs (Orchestral Odyssey)“. Ein Treffen in München.
ARTE Magazin Frau de Sagazan, brechen Sie bewusst mit der Idee des perfekten Popstars?
Zaho de Sagazan Offen gestanden habe ich am Anfang meiner Karriere versucht, ein bisschen geheimnisvoll zu wirken. Aber ein kalkuliertes Image inspiriert mich einfach nicht. Es ist nicht mein Ziel, dass die Leute nach einem Konzert sagen: „Wie schön sie ist, so will ich auch aussehen.“ Ich möchte, dass sie rausgehen und sagen: „Sie ist frei – und ich möchte auch frei sein.“ Wenn ich makellos und mit Diamanten behängt auf der Bühne stünde, käme niemand auf diesen Gedanken.
ARTE Magazin Beschäftigten Sie sich damit, wie andere Sie wahrnehmen?
Zaho de Sagazan Ich versuche, es zu vermeiden. Früher war ich besessen von der Idee, gemocht zu werden. Ich schätze, berühmt zu werden, hat mich davon kuriert. Es wäre zu anstrengend, permanent darüber nachzudenken. Darum geht es auf dem ersten Album: loszulassen, sich nicht ständig zu beobachten. Sich lieben zu lernen, Selbstvertrauen zu finden.
ARTE Magazin Ihre Musik verknüpft Chanson und Elektro-Einflüsse – eine ungewöhnliche Mischung.
Zaho de Sagazan Ich kann mich zwischen diesen beiden Welten einfach nicht entscheiden. Ich habe sehr früh die Macht der Worte entdeckt, denn als Jugendliche hatte ich eine Vorliebe für französische Chansons – etwa von Barbara, Jacques Brel. Den Zugang zu diesem Genre hat mir meine Mutter eröffnet. Später habe ich in Berlin die elektronische Musik entdeckt: Ekstase, Wiederholung, sich verlieren. Irgendwann wurde mir klar, dass es möglich ist, Musik zu machen, zu der man tanzen kann und die zugleich poetisch ist. Wenn ich also sage, ich will, dass Menschen zu meiner Musik tanzen und weinen, dann meine ich: Ich möchte, dass sie sich mit ihrem Körper und ihren Gefühlen verbinden.
ARTE Magazin Glauben Sie, dass wir diese Verbindung verloren haben?
Zaho de Sagazan Wir leben in einer Gesellschaft, die über den Kopf spricht, nicht über den Körper. Das klingt vielleicht kitschig, aber wir müssen wieder mehr fühlen. In früheren Generationen hatten die Menschen eine Verbindung zur Natur, zu ihren Empfindungen. Heute greifen wir zum Handy. Selbst wenn wir nur einen Kaffee trinken, starren wir dabei aufs Display. Musik und Kunst können helfen, uns wieder zu spüren.
ARTE Magazin Ihre Lieder sind sehr atmosphärisch, das Stück „La Fontaine de sang“ etwa ist inspiriert von einem gleichnamigen Gedicht von Charles Baudelaire. Es herrscht Gewalt, Blut fließt. Was interessiert Sie an solchen düsteren Themen?
Zaho de Sagazan Schon der Titel des Gedichts hat etwas in mir ausgelöst. Ich hatte ein Bild vor Augen, eben das Bild des Blutbrunnens. In meinem Kopf entstand eine Geschichte. Sie handelt von der Natur, der Erde – und einer Menschheit, die sie verschlingt.
ARTE Magazin „La Fontaine de sang“ ist ein Song über den Klimawandel?
Zaho de Sagazan Der Brunnen ist für mich ein Sinnbild des Planeten. Erst kommt ein einzelner Mensch zur Quelle, er trinkt und merkt, dass es gut schmeckt. Dann kommen immer mehr.
ARTE Magazin Sie sind in der Küstenstadt Saint-Nazaire in einem Künstlerhaushalt aufgewachsen. Was für eine Kindheit war das?
Zaho de Sagazan Eine sehr freie. Wenn man unser Haus betrat, hat man das gleich gespürt. Dort war alles bunt, denn wir fünf Schwestern durften die Wände bemalen, Lärm machen. Wir haben kleine Filme gedreht, Ballettstücke aufgeführt. Unsere Eltern haben uns sehr unterstützt. Es war ein einfaches Leben, aber eins voller Freiheit und Liebe.
ARTE Magazin Sind das bis heute Ihre Leitpunkte?
Zaho de Sagazan Ja. Ich lese gerade das Buch „All About Love“ von Bell Hooks, der afroamerikanischen Philosophin und Feministin. Sie schreibt über Liebe, und ich bin ganz bei ihr. Ich glaube, dass viele Probleme unserer Gesellschaft auf einem Mangel an Liebe beruhen. Diejenigen, die die Macht haben, haben oft keine Liebe. Das ist unser Dilemma. Ich bin hier, um genau das vorzuschlagen: mehr Liebe.
ARTE Magazin Ihr Leben hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert, plötzlich sind Sie sehr berühmt. Wie nehmen Sie das wahr?
Zaho de Sagazan Am Anfang war ich etwas überwältigt. Das Gute ist, dass ich mit meinen besten Freunden arbeite. Ihnen ist Ruhm egal, sie sehen mich nicht als Star. Wenn man so eine Umwälzung erlebt, kommt es sehr darauf an, mit wem man es tut. Das Schlimmste wäre, sich zu wichtig zu nehmen. Jemand zu werden, den ich selbst nicht mag.
Das Symphonische erlaubt es mir, eine Drama-Queen zu sein
ARTE Magazin Wann wurde Ihnen klar, dass Sie eine besondere Stimme besitzen?
Zaho de Sagazan Schon früh, als Kind habe ich viel gesungen. Doch im Teenageralter wurde meine Stimme plötzlich sehr dunkel, es war fast wie ein Stimmbruch. Das hat mich verunsichert. Also habe ich bewusst schlecht gesungen – damit, wenn jemand sagt: „Du singst schief“, ich antworten konnte: „Natürlich, das war Absicht.“
ARTE Magazin Was hat Sie dazu gebracht, sich dem Singen wieder ernsthaft zu widmen?
Zaho de Sagazan Mir wurde klar, dass etwas aus mir raus musste, ich wusste bloß nicht, was. Als Jugendliche ging es mir nicht besonders gut. Ich habe oft geweint. Damals hätte ich viel dafür gegeben, weniger Emotionen zu spüren. Dann habe ich den britischen Sänger Tom Odell entdeckt. Ich sah, wie er sich am Klavier die Seele aus dem Leib sang. Also setzte ich mich ans Klavier meiner Schwester und begann zu singen. Schon nach ein paar Minuten wusste ich, dass das mein Leben verändern wird. Es war das erste Mal seit Langem, dass ich mich frei und leicht fühlte.
ARTE Magazin Die Musik war also wie ein Blitzableiter für Ihre Gefühle?
Zaho de Sagazan Absolut. Sie hat mir geholfen, den Sinn meiner Sensibilität zu verstehen. Denn wenn ich spielte, entstanden schöne Melodien. Die Musik war der Schlüssel zu mir selbst.
ARTE Magazin Gerade haben Sie viele Ihrer Lieder noch einmal als Symphonie-Album aufgenommen. Wie ändert das deren Klangfarbe?
Zaho de Sagazan Sie erzählen eine völlig andere Geschichte. Da ist etwa der Song „Les Garçons“, den ich früher eher witzig fand. Er handelt davon, dass ich mich in jeden Jungen verliebe, der mir über den Weg läuft. Das war ironisch gemeint, doch wenn man das Lied symphonisch arrangiert, verschwindet die Leichtigkeit. Es entsteht etwas sehr Dramatisches, was mir gefällt.
ARTE Magazin Auch Ihre Auftritte mit Orchester sind theatralisch, fast opernhaft: Sie stürmen oder schleichen über die Bühne, fallen zu Boden.
Zaho de Sagazan Das symphonische Element erlaubt es mir, die Drama-Queen zu sein, die ich bin. Wenn ich mit meiner elektronischen Musik auftrete, trage ich Sportshorts, ziehe mich mehr oder weniger normal an. Mit einem Orchester im Rücken nehme ich eine andere Rolle ein. Ich trage eine Perücke, ein langes Cape. Dann bin ich wie eine Figur aus einem Märchen.
ARTE Magazin Sie haben Ihre letzte Zigarette besungen. Haben Sie das Rauchen aufgegeben?
Zaho de Sagazan Nein, es kommt immer noch eine letzte Zigarette. Darum habe ich den Song geschrieben: Ich wusste, dass ich es nicht schaffe.
Zur Person:
Zaho de Sagazan, Musikerin
Im Oktober erscheint das Album „La Symphonie des éclairs (Orchestral Odyssey)“. Auf ihrer Symphonic Tour stellt die Sängerin es in großen Konzerthäusern wie der Elbphilharmonie vor.








