Cher Dirk,
puuh, da ist es endlich – das neue Jahr! Und allen Heraus- forderungen zum Trotz, auch 2021 gilt es, fleißig Neujahrs- wünsche auszusprechen. Ein Ritual, das hierzulande heilig ist. Insofern, unbekannter Freund, auch Dir: Ein frohes und besonders gesundes neues Jahr 2021! Gleichzeitig ist der Januar aber auch der Monat der guten Vor- sätze. Meine unspektakulärsten wären etwa: aufhören … zu rauchen (der Klassiker), zu trin- ken (ein Wunschdenken) und mich zu stressen (bitte was?). Oder aber ganz Banales, wie endlich das Solitärspiel, mit dem ich meine Zeit ver-
trödele, von meinem Handy zu löschen. Andere Pläne scheinen wiederum ambitionierter: ins Fitnessstudio zu gehen (ich zögere noch), Plastik aus meinem Leben zu ver- bannen (gar nicht so leicht) oder gleich mein Leben zu ändern (womöglich einfa- cher). Ich jedenfalls habe nach den „covi- desken“ Monaten voller Verbote einen wichtigen Vorsatz gefasst: 2021 meine Freiheit wiederzuerlangen. Dieses wert- volle Gut, das der Lyriker Paul Éluard in seinem Gedicht „Liberté“ ehrte und das gemeinsam mit den Worten „Égalité“ und „Fraternité“ die Giebel der französischen Rathäuser schmückt und zum Motto der Republik geworden ist. Und ausgerechnet in diesem Land – kannst Du das glauben? – brauchte man im Namen der Pandemieeindäm- mung eine Bescheinigung, um das Haus zu verlassen und zum Beispiel seinen Hund Gassi zu führen. Schwer zu schlucken für ein Volk, das mangelnde Disziplin zur Qualität erhoben hat und weder rote Ampeln noch Reihenfolgen in Kinoschlangen respektiert. So träume ich davon, wieder frei reisen zu kön- nen, Freunde zu treffen, in Cafés und Theater zu gehen. Ich würde mich auch brav anstellen, um die lang ersehnte Imp- fung zu bekommen und endlich meine Enkeltochter wieder in die Arme schließen zu können. Lieber Dirk, hast auch Du Vorsätze für das neue Jahr? Oder einen innigsten Wunsch?
Ich bin gespannt,
Colombe
Liebe Colombe,
wir haben alle nun schon so viele Jahre kommen und gehen sehen, doch mir scheint, dass besonders wir Deutschen der Segensformeln müde geworden sind. Vielleicht nuscheln wir deswegen nur noch ein abgeschliffenes „froh’s Neu’s“. Mehr wäre auch mir nicht über die Lippen gekommen. Was soll schon froh und neu werden, bloß weil um Mitternacht eine Zahl umklappt? Aber diesmal ist es anders: Das kommende Jahr ist mit der großen Hoffnung verbunden, dass sich die Dinge zum Guten wenden. Das möchte ich zum Anlass nehmen und Dir ausformuliert und von Herzen ein FROHES NEUES JAHR wünschen. Worin besteht nun diese Hoffnung, worin das Gute? Ich denke, darin unterscheiden sich unsere Kulturen nicht voneinander, auch wenn in unserer Nationalhymne die Freiheit erst an dritter Stelle kommt: Wir alle möchten sie zurückerlangen. Und handelt es sich dabei nicht letztlich um die Freiheit von uns selbst? Ich habe in den Monaten, in denen die Pandemie mich in meine Wohnung gepfercht hat, so viel Zeit mit mir selbst verbracht, dass ich mich kaum noch ertrage. Jeder Gedanke ist gedacht, jede Frage gestellt, jede Antwort gegeben, wenn auch falsch. Ich vermisse meine Freunde und die Impulse, die sie mir geben, ich vermisse frische Ideen, das Unvorhersehbare eines langen Gesprächs. Ich vermisse die Wendungen, die Zufälle, ja sogar die kleinen Hänseleien des Alltags. Oft denke ich an ein von Hannah Arendt geprägtes Bild: Sich dem Leben aussetzen „wie dem Wetter ohne Schirm“. Liebe Colombe, ich möchte endlich diesen verfluchten Schirm in die Ecke schleudern, unter dem ich nun schon so lange sitze und mich ängstlich der Illusion von Sicherheit hingebe. Ich bin mir der Notwendigkeit bewusst und werde ihr so lange Rechnung tragen, wie es eben sein muss. Und doch sehne ich den Tag herbei, an dem wir wieder frei sein können, frei von uns selbst. So lautet auch mein Vorsatz: Ich will im Regen stehen und nass werden. Und dabei werde ich versuchen, mir eine Zigarette anzuzünden. Ist das nicht lächerlich, ist das nicht herrlich?
Dein unbekannter Freund,
Dirk