Stimmt es, dass …

… wir früher mehr geschuftet haben? Ein neues Webmagazin blickt auf gängige Annahmen und prüft, wie haltbar sie sind.

Illustration von einem rauchenden Kopf eines Mannes.
„Zu einem gewissen Grad ist Burn-out tatsächlich gesellschaftlich validiert“, so Burn-out Coach und Professorin für Kulturgeschichte Anna Schaffner. Illustration: Sebastian Haslauer für ARTE Magazin

Noch vor wenigen Generationen gab es keine Waschmaschinen, die unsere Wäsche reinigten, kein fließendes Trinkwasser aus der Leitung und auch das Heizen von Wohnungen und Häusern ließ sich nicht automatisieren. Vieles war mühsam, vieles Handarbeit. Man sollte meinen, das Leben war härter, körperlich fordernder und erschöpfender als heute. Aber stimmt das? Obwohl immer mehr Technologien unser Leben erleichtern, scheint die Erschöpfung der Menschen zuzunehmen. Krankenhaus­reporte verzeichnen einen stetigen Anstieg von Burn-out-­Diagnosen – quer durch alle Berufsbranchen. Was sagt das über unser Verständnis von Fortschritt aus? Haben wir früher wirklich mehr gearbeitet als heute?

Im neuen ARTE-Webmagazin „Stimmt es, dass …?“ werden Woche für Woche verbreitete Annahmen hinterfragt – mit überraschenden Thesen, fundierten Erklärungen und neuen Perspektiven. Die Folge zur Frage „Stimmt es, dass wir früher alle mehr geschuftet haben?“ zeigt: Entscheidend sind nicht die reine Arbeitszeit oder körperliche Anstrengung, sondern die Art und Weise, wie wir heute arbeiten – und was wir dabei von uns selbst erwarten. „Das ist das Paradox der Beschleunigung“, sagt ­Anna ­Schaffner, Schriftstellerin, Burn-out-Coach und ehemalige Professorin für Kulturgeschichte, im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin.

„Das Freizeitversprechen der Technologisierung wurde nie eingelöst – stattdessen füllen wir eingesparte Zeit mit neuen Aufgaben.“ Während früher Muskelkraft gefragt war, ist heute das Denken selbst zu einer der wichtigsten Ressourcen geworden – oft unter Dauer­erreichbarkeit, Multitasking und steigendem Effizienzdruck. „Im Gegensatz zur körperlichen Arbeit respektieren wir bei geistiger Arbeit keine Grenzen“, betont Schaffner. „Wir denken, wir können einfach so ohne Pause zehn, zwölf Stunden arbeiten.“ Dabei werde vergessen, dass auch unser Gehirn und die Psyche dringend Erholungsphasen benötigen.

Stimmt es , dass...?

Webmagazin

ab 18.6. auf arte.tv

Die Folge ist oftmals eine stille, schleichende Erschöpfung, die schwerer zu erkennen ist als körperliche Überlastung – und gesellschaftlich lange verharmlost wurde. „Zu einem gewissen Grad ist Burn-out tatsächlich gesellschaftlich validiert“, sagt ­Schaffner. „Wir haben der Arbeit alles und mehr gegeben, und das ist heldenhaft.“ Hinzu kommt: Arbeit ist heute nicht mehr nur Broterwerb, sondern für viele Menschen eine Quelle für Identität, Sinn und gesellschaftliche Wertschätzung. ­Schaffner spricht von einer Verschiebung unseres Selbstverständnisses: „Wir erwarten von unserer Arbeit, dass sie uns Sinn und Bedeutung vermittelt. Eine Existenzlegitimierung.“ Und noch etwas hat sich verändert: Während der Feierabend früher eine klare Grenze zog – das Fabriktor schloss sich, der Arbeitstag war beendet –, verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend. Smartphones, E-Mails und andere Kommunikationsplattformen machen es möglich, dass Arbeit immer und überall stattfinden kann – das ist praktisch, aber eben auch belastend. Arbeit werde heutzutage oft überbewertet, findet ­Schaffner. Unsere Zeit sei gekennzeichnet von einem „enormen Suchtpotenzial unserer ­Informations- und Kommunikationstechnologien und dem nie nachlassenden psychosozialen Druck, den uns die neoliberale Wettbewerbsgesellschaft aufbürdet“. Wie aber können wir dem ständigen Selbstoptimierungszwang entfliehen – oder zumindest rechtzeitig erkennen, dass unsere Kräfte erschöpft sind?

Ausgebrannt – und jetzt?

Erschöpft zu sein, bedeutet nicht gleich, kurz vor dem Burn-out zu stehen. Es hat „immer innere und äußere Ursachen“, erklärt Schaffner. Zu den äußeren Hauptursachen für einen Burn-out zählen eine unfaire Behandlung am Arbeitsplatz, ein nicht zu bewältigendes Arbeitspensum, fehlende Rollenklarheit, Kommunikationsdefizite sowie unangemessener Zeitdruck. Aber auch fehlende Kontrolle oder Wertekonflikte können eine Rolle spielen. Nicht selten, so ­Schaffner, erschöpfen wir uns zusätzlich durch eigene psychologische Kämpfe: einen lauten inneren Kritiker, lähmenden Perfektionismus oder überhöhte Erwartungen an uns selbst.

Wenn selbst die Beziehungen zur Partnerin oder zum Partner und zu Freunden zur Belastung werden, die Sorge um das eigene körperliche Wohl schwindet, Gereiztheit den Alltag bestimmt und sich ein sozialer Rückzug bemerkbar macht, wird es Zeit, genauer hinzusehen. Weitere Burn-out-Anzeichen können Durchschlafstörungen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Tinnitus und nächtliches Zähneknirschen sein, wie der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Till ­Bugaj, in der ­Süddeutschen ­Zeitung erklärt: „Betroffene fühlen sich emotional erschöpft und ausgelaugt, sind oft chronisch müde, fahrig, unkonzentriert und vergesslich.“ Was hilft, ist das kritische Hinterfragen unseres Arbeitsverständnisses und unserer Beziehung zur Arbeit, sagt ­Anna ­Schaffner. Doch sie ist optimitisch, dass eine gesunde Work-Life-­Balance „zum neuen Statussymbol wird“.