Capras Vision

AMERICAN DREAM In den Filmen des Regisseurs Frank Capra sind die USA eine große Gemeinschaft von Individualisten. Sein Werk hilft, das Land besser zu verstehen.

Foto: John Kobal Foundation/Getty Images

Ein Dialog aus einem Film von 1938 hat in Amerika im Herbst 2020 ungeahnte Aktualität bekommen. Er stammt aus „Lebenskünstler“ des Regisseurs Frank ­Capra. Eine der Hauptfiguren wird darin gefragt: „Mr. ­Vanderhof, unseren Aufzeichnungen zufolge haben Sie noch nie Steuern gezahlt!“ „Das stimmt.“ „Warum nicht?“ „Ich glaube nicht an sie.“ Es fällt schwer, dabei nicht an Donald Trump zu denken, der zwar 2016 immerhin 750 Dollar an das Finanzamt abgeführt hat, von dem man aber auch annehmen muss, dass er eher nicht an Steuern „glaubt“. Interessanterweise ist Mr. ­Vanderhof jedoch in dieser romantischen Komödie eine der positiven Identifikationsfiguren. Er ist ein ausgeprägter Individualist, allerdings keineswegs ein Raubtierkapitalist. Und damit ein Mann ganz nach dem Schlag Mensch, wie ­Capra ihn liebte.

Ist das Leben nicht schön?

Tragikkomödie

Dienstag, 29.12. • 20.15 Uhr

Märchen und Mythos
Der Filmemacher, der 1897 auf Sizilien zur Welt kam und 1991 in Kalifornien starb, war einer der wichtigsten ­Hollywood-Regisseure während und nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis Ende der 1930er Jahre. Er war kein Sozialdemokrat wie ­Franklin D. ­Roosevelt, der 1933 sein Amt als US-Präsident antrat, sondern ein überzeugter Republikaner. Und er legte im Prinzip mit jedem seiner Filme eine neue Interpretation des amerikanischen Traums vor, den er selbst lebte.

Das macht auch Dimitri Kourtchine in seinem Porträt „Frank Capra: Der amerikanische Traum eines ­Cineasten“ deutlich, das im Dezember auf ARTE läuft. Die Dokumentation zeigt, dass Capra sein Land nicht nur abbildete, sondern die Vereinigten Staaten mit seinen wohldurchdachten Bildern und Geschichten auch maßgeblich prägte. Mehr noch, dass diese sogar bis heute für die Verständigung in der US-amerikanischen Politik und über sie ein sehr brauchbares Mittel sind. So bezog sich etwa Ronald Reagan, der als 40. Präsident der USA in den 1980er Jahren das Ende des starken und solidarischen Staates einläutete, in der Rechtfertigung seiner auf das Individuum ausgerichteten Politik auf Capras Film „Dr. Deeds geht in die Stadt“ (1936) mit Gary Cooper. Der Zusammenhalt in der Gesellschaft wird darin anhand einer Szene aus dem Straßenverkehr beschrieben: Wenn jemand eine Panne hat, dann hält eben jemand an und hilft – oder auch nicht –, vielleicht gründet sogar jemand ein kleines Service-­Unternehmen. Nicht gebraucht wird jedoch eine Behörde für die Regulierung dieses Vorgangs. Das Bild ist gewiss etwas schief, es unterstreicht ­Capras Vision der US-Gesellschaft aber bis heute. Ganz sicher hätte er sich das heutige Ausmaß der Polarisierung des Landes nicht vorstellen können. Für den Immigranten standen die USA immer für Freiheit.

Manche Zerfallsprozesse hat er aber durchaus geahnt. Das zeigt sein Weihnachtsklassiker „Ist das Leben nicht schön?“ (1946). ­Capra erzählt darin von der idealisierten Kleinstadt Bedford Falls und von ihrem Musterbürger ­George ­Bailey. Gespielt wird die Rolle von ­James ­Stewart, dem vielleicht letzten großen Star, auf den sich noch ganz Amerika einigen konnte. ­Bailey ist ein Träumer und Idealist; er möchte fremde Länder sehen, aber er muss letztlich in seiner kleinen Welt bleiben, weil er eine Verantwortung geerbt hat. Sein Vater hat ein Kreditunternehmen hinterlassen, das kleinen Leuten bei der Finanzierung ihrer Häuser hilft. Diese Firma steht ihrerseits aber unter Druck durch den Magnaten ­Henry F. ­Potter, der keinerlei Pardon kennt, wenn es um das Eintreiben von Schulden geht. Als sich die Situation zuspitzt, verlässt ­Bailey sein Lebensmut – ausgerechnet am Weihnachtsabend. Nur himmlischer Beistand in Gestalt seines persönlichen Schutzengels ­Clarence (­Henry ­Travers) kann den braven Bailey vom Selbstmord abhalten.

Frank Capra: Der amerikanische Traum eines Cineasten

Porträt

Dienstag, 29.12. • 22.20 Uhr
bis 26.2.2021 in der Mediathek

Gier vs. Solidarität
Der hartherzige Potter – wie auch Mr. Vanderhof im Film „Lebenskünstler“ verkörpert von ­Lionel ­Barrymore – wirkt aus heutiger Sicht wie ein Vorläufer so mancher gieriger Hedgefonds-Manager an der Wall Street. Er steht für das Gegenteil einer Politik der Solidarität und verdient dabei noch an den faulen Krediten, die er eingefädelt hat. Entlang der Spannungen zwischen den beiden Hauptfiguren, ­Bailey und ­Potter, kann man die ganze Bandbreite von Frank ­Capras sozialer Vision herauslesen. Wie er später selbst betonte, enthält „Ist das Leben nicht schön?“ seine Weltanschaung „wie in einer Kapsel“.
Ein Statement, das auch ­die ARTE-Dokumentation aufgreift. So soll am Beispiel von ­George ­Bailey deutlich werden, dass es in einer Gesellschaft zwar auf das Individuum ankommt. Die zweite Botschaft aber lautet: Zusammengenommen sind die Menschen mit allen ihren Grillen und ihren Schwächen mehr als nur die Summe von Einzelnen, sie bilden ein kollektivistisches großes Ganzes. ­Capras Vision des amerikanischen Traums – sie scheint den heutigen, schwer polarisierten USA irgendwie abhanden gekommen zu sein.

Mein Geheimnis ist, dass ich die Menschen mit Humor für meine Botschaften empfänglich mache

Frank Capra, Regisseur