Nackte Eleganz

Striptease als Statement: Seit mehr als 70 Jahren spiegelt das Pariser Cabaret „Crazy Horse“ Frankreichs Umgang mit weiblichen Rollen­bildern – und kämpft gegen sein Erotik-Image.

Leicht bekleidete Tänzerinnen in roten Dessous
Burlesque-Künstlerin Dita Von Teese bei ihrer zweiten „Crazy Horse“-Performance in Paris, 2009. Seit 1951 ist das „Crazy Horse“ ein Wahrzeichen des Pariser Nachtlebens. Gegründet von Dandy Alain Bernardin, fasziniert der Striptease-­Club bis heute Besucher aus aller Welt – auch dank immer neuer Inspirationen. Foto: Ali Mahdavi / Crazy Horse Paris

Ein Frühlingsabend in Paris, 1951. In einem Weinkeller unter der Avenue George V eröffnet der Antiquitätenhändler und Gelegenheitsmaler ­Alain ­Bernardin ein neues Revuetheater, das „Crazy Horse“. Seine Vision: den als vulgär verschrienen Striptease zur Kunstform zu erheben – inspiriert von Malerei, Film, Lichtkunst und Choreografie. Die Lage des Nachtclubs ist außergewöhnlich: inmitten des Goldenen Dreiecks zwischen Champs-­Élysées und Avenue ­Montaigne, dem Herzen der Pariser Haute Couture. Dort reihen sich Edelrestaurants an Kunstgalerien, gegenüber locken die Schaufenster von ­Yves ­Saint ­Laurent und ­Givenchy. Die Eröffnung fällt in eine Zeit des gesellschaftlichen Wandels: Frauen hatten in Frankreich zwar seit 1944 das Wahlrecht, standen laut Zivilgesetzbuch jedoch weiterhin unter der Vormundschaft ihrer Ehemänner. Zugleich wurden nur wenige Straßen entfernt im Künstlerviertel Saint-Germain-des-Prés genau diese Zustände infrage gestellt: Jean-Paul Sartre und ­Simone de ­Beauvoir diskutierten in verrauchten Kneipen über individuelle Freiheit und die Konstruktion von Geschlecht.

In dieser Gemengelage sorgt das „Crazy Horse“ von Beginn an für Gesprächsstoff – auch durch den Anspruch, den Striptease von seinem Erotik-­Image zu befreien. Heute hat sich etwa der Poledance längst von seiner einst verruchten Aura emanzipiert und wird als Trendsport in Fitnessstudios angeboten. Doch in den 1950er Jahren war Striptease noch fest in der erotischen Bühnenkultur verankert. Seit dem späten 19. Jahrhundert war er Bestandteil des Cabarets, häufig mit satirischer Note. In Paris erhielt er ab den 1920er Jahren erstmals eine künstlerischere Ausrichtung, etwa im Varieté „­Moulin ­Rouge“. Das „­Crazy ­Horse“ entwickelte in seinen Anfangsjahren dann eine völlig neue Ästhetik: Zwölf Tänzerinnen mit möglichst einheitlichen Körperformen und Frisuren führten choreografisch präzise Performances auf. Licht, Schatten und Farbe spielten dabei eine zentrale Rolle – inspiriert von Pop- und Op-Art-Künstlern wie Man Ray, ­Victor Vasarely oder Roy Lichtenstein. Die Shows waren stets aufwendig: Pro Jahr wurden rund 2.500 Paar Seidenstrümpfe, 500 Liter Make-up und 300 Lippenstifte verbraucht.

Striptease mit Chic! – Der Pariser Nachtclub „Crazy Horse“

Kulturdoku

Sonntag, 3.8. — 21.55 Uhr
bis 7.11. auf arte.tv 

In den 1970er und 1980er Jahren avancierte das „­Crazy ­Horse“ zu einem bedeutenden Bestandteil der Pariser Kulturszene und zog Stars wie Marlene ­Dietrich, ­Elvis ­Presley und ­Salvador ­Dalí an. Die Presse zeigte sich jedoch gespalten: Für die einen war der Club ein „Kunsttempel“, für die anderen kaum mehr als ein ästhetisch getarnter Rückfall in überholte Rollenbilder. Später sorgte auch der Name des Cabarets für Kontroversen. Gründer ­Alain ­Bernardin, ein begeisterter Western-Fan, hatte es nach dem Lakota-Sioux-Häuptling „­Crazy ­Horse“ benannt, der für den indigenen Widerstand gegen die US-Expansion steht. 2004 reiste Häuptling ­Alfred Red Cloud eigens nach Paris, um gegen die Namensnutzung und Tänzerinnen mit Federkopfschmuck zu protestieren. Das Haus aber hielt an seinem etablierten Markennamen fest. Ein Ausdruck jenes kompromisslosen Eigensinns, mit dem auch Bernardin das „Crazy Horse“ über vier Jahrzehnte geführt hatte? Der Gründer führte das Haus bis 1994. In dem Jahr nahm er sich überraschend das Leben.

Schwarz-weiß-Bild von tanzenden halbnackten Frauen
Stripperinnen tanzen bei der Jubiläumsshow von 1981. Foto: Keystone/Getty Images

VON DER PROJEKTIONSFLÄCHE ZUR MITGESTALTUNG 

Das „Crazy Horse“ verfolgt einen hohen künstlerischen Anspruch, betont Kreativdirektorin Andrée Deissenberg, die das Cabaret seit 2006 neu ausrichtet. Sie sieht den Club als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und will die Schönheitsnormen aus den Anfangsjahren aufbrechen. Inspiration schöpft die frühere Cirque-du-Soleil-Managerin aus Kunst, Literatur – und unerwarteten Begegnungen, etwa mit US-Veteranen, deren souveräner Umgang mit körperlichen Einschränkungen sie zu einer Show über den Körper im technologischen Zeitalter inspirierte. Für dieses Projekt holte sie die Künstlerin Viktoria Modesta auf die Bühne, die ihr amputiertes Bein mit futuristischen Prothesen inszeniert.

Unter Deissenbergs Leitung hat sich das „Crazy Horse“ grundlegend gewandelt: „Unsere Shows bloß als erotisch einzuordnen, ist ein Missverständnis“, betont sie im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Die Tänzerinnen sind längst keine stummen Modelle mehr. Viele haben einen Zweitjob als Model, Architektin, Krankenschwester oder Fotografin und sind an allen kreativen Prozessen beteiligt – von Lichtdesign bis Choreografie. Gaststars wie K-Pop-Sängerin Lisa oder Burlesque-Künstlerin Dita Von Teese setzen neue Akzente, und Modehäuser wie Christian Louboutin präsentieren ihre Kollektionen auf der Bühne. Passend zur modernen Linie hat sich übrigens auch das Publikum verändert: Es besteht heute zu rund 65 Prozent aus Frauen.

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