Selbst für die erschütterndste Szene ihres Romans „Das Ereignis“ (2000) findet Annie Ernaux eine schlichte und analytische Sprache. Es ist der Moment, in dem die 23-jährige Literaturstudentin Anne am Endpunkt einer langen Odyssee von Arztpraxis zu Arztpraxis eine eingeleitete Fehlgeburt durchlebt und den Embryo danach, verpackt in einer leeren Zwiebacktüte, die Toilette herunterspült. In dieser Szene kulminiert die Scham und Überforderung, die Ernaux’ Protagonistin auf der Suche nach medizinischer Hilfe erfährt. Nach einer Kindheit in prekären Verhältnissen will Anne ihren hart erkämpften Status als Studentin und die Hoffnung, Schriftstellerin zu werden, nicht aufgeben. Erst recht nicht aufgrund einer unehelichen Schwangerschaft. Abtreibungen sind 1963 in Frankreich allerdings illegal und gesellschaftlich geächtet. So nimmt das Drama seinen Lauf.
Der preisgekrönten filmischen Umsetzung des autobiografisch inspirierten Romans, die ARTE im März ausstrahlt, gelingt eine ebenso präzise Rekonstruktion von Annes Erlebnissen wie dem literarischen Vorbild. Der Film aus dem Jahr 2021 verbildlicht die Zeit, als in Frankreich noch ein Gesetz von 1920 galt, das den Aufruf zu Abtreibungen sowie die Verbreitung sogenannter empfängnisverhütender Propaganda und die Weitergabe entsprechender Mittel verbot – unter anderem, um nach dem Ersten Weltkrieg die Geburtenrate zu erhöhen. Vielen Frauen blieb daher nur die Möglichkeit, enthaltsam oder aber mit der Angst vor einer Schwangerschaft zu leben – die Antibabypille wurde in Frankreich erst 1967 legalisiert. Abtreibungen wurden zumeist durch sogenannte Engelmacher unter gesundheitlich bedenklichen Bedingungen und mit brutalen Methoden durchgeführt.
Trotz ihrer kühlen Analyse bleibt Regisseurin Audrey Diwan stets nah an ihrer Hauptfigur und stellt deren innere Konflikte in den Mittelpunkt. Das Drehbuch zum Film entstand dabei in enger Abstimmung mit Annie Ernaux. Die 1940 geborene, französische Autorin ist für die Nähe zu ihren Protagonistinnen und Protagonisten bekannt, entwickelt sie doch den Stoff ihrer Romane zumeist aus ihren eigenen Erfahrungen. Sie wuchs als hochintelligentes Mädchen in ärmlichen, katholischen Verhältnissen auf, als Erwachsene schaffte sie den Aufstieg ins Bildungsbürgertum.
Die Schriftstellerin, die sich einmal als „Ethnologin ihrer selbst“ und als „Archäologin in eigener Sache“ bezeichnet hat, gräbt für ihre Texte tief in Erinnerungen und nutzt Tagebücher und Kalender, Werbung und Chansons, aber auch theoretische Texte wie etwa das Werk des Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002) zu sozialen Klassen, als Quellen. Viele Autorinnen und Autoren, die heute zu Klassenfragen schreiben, wie etwa der Franzose Édouard Louis oder Daniela Dröscher aus München, bezeichnen Ernaux als Vorbild und Begründerin der Autofiktion – ein literarisches Genre, in dem sich autobiografische und erfundene Elemente vermischen. Für ihr Werk, in dem sie ein Leben untersuche, das von „starken Ungleichheiten in Bezug auf Geschlecht, Sprache und Klasse geprägt ist“, erhielt sie 2022 den Literaturnobelpreis.

Bis heute umkämpft: Das Recht auf Abtreibung
Annie Ernaux’ Roman „Das Ereignis“ lässt sich als Gesellschaftsporträt und zeithistorisches Dokument lesen, das die Benachteiligung von Frauen aufzeigt – erst seit 1975 werden Abtreibungen in Frankreich nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Zugleich ist das Thema des Buches bis heute aktuell. Laut dem Center for Reproductive Rights gibt es global betrachtet zwar einen Trend zur Liberalisierung von Abtreibungen. Dennoch leben derzeit 642 Millionen Frauen in Staaten, in denen ein Abbruch nur aus gesundheitlichen Gründen oder bei Lebensgefahr für die Mutter durchgeführt werden darf, etwa in Iran oder Brasilien. Weitere 111 Millionen Frauen leben in Ländern wie Ägypten, in denen eine Abtreibung unter keinen Umständen erlaubt ist. Es drohen hohe Geld- und lange Haftstrafen – in El Salvador etwa bis zu 30 Jahren Gefängnis. Deutschland zählt nach den Forschenden zu 77 Ländern, in denen liberalere Regeln gelten. Dennoch bleibt eine Abtreibung auch in Deutschland nur unter bestimmten Voraussetzungen straflos.
Annie Ernaux machte zum Erscheinen des Buches deutlich, dass für sie der Zugang zu Abtreibungen zu den wichtigsten Rechten der Frauen gehöre. Als Autorin sei es ihre Aufgabe, diese Erfahrungen von Frauen so genau wie möglich zu beschreiben, um sich niemals „zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt“ zu machen.