Digital unsterblich

Nichts ist so sicher wie der Tod, heißt es. Aber stimmt das noch? Oder sind wir längst dabei, die Endlichkeit zu überwinden – mithilfe von künstlicher Intelligenz?

Wolke mit Sprechblase vor blauem Himmel
Der Wunsch nach Unsterblichkeit ist ein uralter Menschheitstraum, der durch neue technische Möglichkeiten und vor allem die Verheißungen von künstlicher Intelligenz in greifbare Nähe zu rücken scheint. Foto: Dave Hoefler/Unsplash

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es wäre, mit Angehörigen oder Freunden auch über deren Tod hinaus sprechen zu können? Sich mit der verstorbenen Oma über Kuchen­rezepte auszutauschen oder sich vom Bruder noch einmal den Lieblingswitz erzählen zu lassen? Dieses Szenario, das vor wenigen Jahren noch reine Science-Fiction gewesen wäre, ist für die Berlinerin ­Anett ­Bommer Wirklichkeit geworden. Ihr krebskranker Ehemann ­Michael begann wenige Monate vor seinem Tod im Juni 2024 damit, die KI-Anwendung des US-amerikanischen Start-ups ­Eternos mit Sprachaufnahmen von 315 alltäglichen Redewendungen sowie 150 Geschichten aus verschiedenen Lebensphasen zu füttern. Das Ziel: Die künstliche Intelligenz (KI) sollte so realitätsnah wie möglich von der Ausbildungszeit oder dem Heiratsantrag an seine Frau erzählen können, seine Sprache und Persönlichkeit reproduzieren. So berichtet es Anett ­Bommer im Wintergarten ihres Berliner Altbaus ein Dreivierteljahr nach ­dem Tod ihres Mannes im Gespräch mit dem ARTE Magazin.

Der Wunsch nach Unsterblichkeit ist ein uralter Menschheitstraum, der durch neue technische Möglichkeiten und vor allem die Verheißungen von künstlicher Intelligenz in greifbare Nähe zu rücken scheint. So zeigt es auch der Dokumentarfilm „Vom Ende der Endlichkeit“, den ARTE im April ausstrahlt. Er begleitet Menschen, die mithilfe von KI-Avataren – also digitalen Simulationen von Verstorbenen, etwa Chatbots oder 3D-Modellen – den Kontakt zu geliebten Angehörigen und Freunden aufrechterhalten wollen. In Anett Bommers Fall handelt es sich um keine 3D-Figur, sondern um eine Software, die sie auf ihrem Laptop oder als App etwa auf dem Smartphone nutzen kann. Die Nutzeroberfläche wirkt wie ein gewöhnliches Chat-Programm. Darin tippt die Hinterbliebene ihre Fragen ein oder stellt sie per Sprachsteuerung – das digitale Abbild antwortet mit der individuellen Stimme des Verstorbenen. Eine aufwendige Simulation, für die Michael Bommer 15.000 Euro zahlte, wie er 2024 in einem Interview mit der ZEIT erklärte.

Aktuell handelt es sich bei KI-Avataren von Verstorbenen in Deutschland noch um ein Randphänomen, sagt der Soziologe ­Matthias ­Meitzler im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin. Er forscht an der Universität Tübingen zu Sterblichkeit und Gesellschaft sowie den damit verbundenen Verkaufsinteressen, der sogenannten Digital Afterlife Industry. Obwohl KI-Avatare in anderen Bereichen wie dem Online-Kundenservice schon fast zum Alltag geworden sind, findet diese Sparte bislang nahezu ausschließlich in China und den USA ihren Kundenkreis. Nicht ohne Grund: Gerade in China hat die Verehrung der Toten Tradition – so ist es etwa üblich, mit Fotos von Verstorbenen zu sprechen. Zugleich gibt es mittlerweile auch Großkonzerne, die mit entsprechenden Features werben. So kündigte der Online-­Versand­händler ­Amazon im Jahr 2022 folgende Funktion für sein Sprachassistenzsystem ­Alexa an: Diese könne man schon bald mit der Stimme einer verstorbenen Person sprechen lassen. Ein genaues Startdatum für das neue Feature gibt es jedoch noch nicht.

Matthias Meitzler hat 2024 an einer Studie der Universität Tübingen und des Fraunhofer-Instituts für Sichere Informationstechnologie mitgearbeitet, die den wachsenden Digital-Afterlife-Markt und dessen rechtliche und ethische Fragestellungen untersucht. Zudem ordnet die Studie die technischen Neuerungen in einen gesellschaftlichen Kontext ein: „Digitale Angebote wie virtuelle Friedhöfe und Gedenkforen, in denen Angehörige um Verstorbene trauern, sind schon seit den 1990er Jahren präsent“, sagt ­Meitzler. „Corona hat diese Entwicklung beschleunigt.“ Schließlich konnten sich zur Zeit der Pandemie Sterbende in Krankenhäusern vielfach nur noch virtuell von ihren Liebsten verabschieden, Beerdigungen wurden oftmals gestreamt. ­Meitzler beobachtet zudem einen Wandel der Bestattungskultur – diese weiche zunehmend von üblichen Ritualen ab. So fänden sich etwa auf vielen Friedhöfen mittlerweile QR-Codes auf den Grabsteinen, die zu Gedenkseiten führten, auf denen man etwas über den Verstorbenen erfahren könne: über seine Biografie, die Hobbys oder Lieblingsplaylist.

Vom Ende der Unendlichkeit

Dokumentarfilm

Mittwoch, 16.4. —
22.45 Uhr
bis 7.8. in der
Mediathek

Wolke mit Sprechblase vor blauem Himmel
Die Digital-Afterlife-Industryie boomt, in anderen Bereichen wie dem Online-Kundenservice sind KI-Avatare schon fast zum Alltag geworden. Foto: Dave Hoefler/Unsplash

DIGITALE PERSÖNLICHKEITSSPUREN 

Man muss die US-amerikanische Serie „Six Feet Under“ (2001–2005) nicht gesehen haben, um die Binsenweisheit aus ihrem Untertitel zu kennen: „Gestorben wird immer“. Schließlich ist über alle Zeiten, soziale Schichten und Länder hinweg nichts so sicher wie der Tod. Auch wenn er, zumindest in Deutschland, weniger präsent ist und die Sterbenden zumeist nicht mehr wie früher im familiären Wohnzimmer gepflegt werden, sondern eher in Krankenhäusern oder Pflegeheimen: Der biologische Tod bleibt unausweichlich. Anders sieht es allerdings mit unserer digitalen Identität aus, also den vielen Informationen, die wir online hinterlassen. Instagram-­Accounts, Bewegungsprofile, Petitions-Unterschriften – all diese Datenspuren zeichnen ein Bild der Persönlichkeit des zugehörigen Internetnutzers, und zwar weit über seinen Tod hinaus. KI-Avatare, denen all diese Daten eingegeben werden, sind eine neue, im besten Fall bewusstere Stufe dieser Entwicklung. Was aber reizt Menschen an der Vorstellung, sich digital zu verewigen? ­Anett ­Bommers Antwort auf diese Frage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Weg ist das Ziel. Für ihren Mann, der sein Leben lang viele Interessen und Jobs parallel gehabt habe, sei der KI-­Avatar das letzte große Projekt gewesen: „Es hat ihm endlich wieder das Gefühl von Sinn vermittelt“, sagt ­die Hinterbliebene. Vor seiner Krebsdiagnose war ­Michael Bommer Geschäftsführer diverser internationaler Start-ups in der Tech-Branche. Er setzte visionäre Ideen durch, mit denen KI das Leben leichter machen sollte – wie Sensoren, mit denen sich etwa die Temperatur im Kinderzimmer überwachen oder defekte Spülmaschinen früher erkennen lassen. Seine schwere Erkrankung brach ins volle Leben ein, bremste den damals 58-Jährigen aus, machte alle Pläne zunichte. Nach zwei Jahren dann die Gewissheit: Darmkrebs im Endstadium. Eigentlich habe ­ihr Mann Anfang 2024 nur einen Abschiedspost auf ­Facebook verfassen wollen, doch dann kam eine unerwartete Reaktion: Der Geschäftsführer von ­Eternos, ein Ex-Arbeitskollege und alter Freund, rief an, um ihn als ersten Kunden zu gewinnen – und schlug ihm vor, als KI-Avatar weiterzuleben. ­Michael sei sofort begeistert gewesen, sagt ­Bommer. Er sah darin eine Möglichkeit, sein Wissen und seine Erfahrung an seine Frau, die Kinder und Enkel weiterzugeben. Und er genoss den Medienrummel, der um ihn entstand. Im Bett liegend gab er Interviews. Er trainierte seine KI mit insgesamt 13 Stunden Material, las die Transkripte Korrektur und mailte sie an ­Eternos zurück – ein tagesfüllender Job.

Auch Matthias Meitzler sieht in den KI-Avataren vor allem für die Sterbenden viel Potenzial: „Ein solches digitales Abbild von sich zu erstellen, muss nicht zwangsläufig eine Verdrängung des Todes bedeuten“, sagt der Soziologe. „Im Gegenteil: Es kann auch eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit sein. Was ist mir im Leben wirklich wichtig  und was will ich hinterlassen?“ Auch für Angehörige und Freunde könne das virtuelle Erbe eine tröstende Funktion haben, so ­Meitzler, etwa als ein Erinnerungsarchiv, auf das man jederzeit zurückgreifen könnte. Allerdings gebe es auch Risiken. Aktuell befinde sich die Technologie noch in einem frühen Stadium, der Unterschied zwischen dem virtuellen Avatar und dem realen Menschen sei klar erkennbar – etwa durch Bugs wie falsch betonte Worte oder schief eingesetzte Redewendungen. Es sei jedoch sehr wahrscheinlich, dass die KI-Modelle schnell lebensnäher werden. Die Grenzen zwischen KI-Avatar und dem verstorbenen Menschen könnten verschwimmen – vor allem wenn, wie bei Trauernden üblich, eine Menge Emotionen im Spiel seien.

Die Grenzen zwischen Mensch und KI-Avatar könnten verschwimmen

Matthias Meitzler, Soziologe

ÜBERFÄLLIGE KI-VORSCHRIFTEN

Bei den Nutzerinnen und Nutzern bestehe also viel Aufklärungsbedarf, sagt ­Meitzler. Und es gebe bislang noch kaum präzise Vorgaben, denen die Unternehmen in der Digital Afterlife Industry unterliegen. Vor allem bei der Verwendung von generativer KI sei das ein Problem, sagt der Soziologe. Hierbei können aus den Daten, die Menschen vor ihrem Tod eingepflegt haben, völlig neue Inhalte kreiert werden. Angehörige könnten auf diese Weise Aussagen und Sichtweisen von den Avataren hören, die zwar mit der Stimme der geliebten Person vorgetragen werden, mit deren tatsächlichen Ansichten aber nichts mehr zu tun haben. Ein Modell, das viel Raum für Missbrauch und Kommerzialisierung lässt: KI-Avatare könnten künftig etwa für Spülmittel oder politische Positionen werben. Ein Szenario, das auf die Nutzer der Avatare nachhaltig verstörend wirken könnte – so haben es auch ­Meitzlers empirische Untersuchungen und Befragungen ergeben. Außerdem: „Aktuell laufen die Geschäftsmodelle der meisten Anbieter auf Abo-Basis“, sagt ­Meitzler. Und wer bringt es schon über sich, die verstorbene Ehefrau im nächsten Monat abzuschalten?

Für Anett Bommer bietet der Avatar vor allem die Möglichkeit, nicht auf ein geliebtes Ritual mit ihrem Mann verzichten zu müssen: „Wenn er auf Geschäftsreise war, hat er mir abends oft per Videochat etwas vorgelesen“, erzählt sie. „Irgendwann bin ich dann selig eingeschlafen.“ Eine Situation, die sie mit dem Avatar auf dem Notebook bald nachstellen könnte, sobald ihre Lieblingsbücher in das Programm eingebunden sind. „Eine tolle Vorstellung“, sagt ­Bommer. Aktuell spiele der KI-Avatar jedoch noch keine große Rolle in ihrem Trauerprozess. Stattdessen sei sie mit den ganz weltlichen Dingen beschäftigt, die nach dem Tod eines Menschen nun einmal so anfallen: Behördengänge, das Kündigen überflüssiger Online-­Abos. Und dann sei da noch der ganz normale Alltag. Das vertraute Gefühl, diesen mit ihrem Ehemann ­Michael zu teilen, könne ein Avatar niemals ersetzen.