Das Geheimnis der Materie

Obgleich bislang nicht völlig klar ist, wie die Prozesse der Quantenmechanik ablaufen, hat der Wissenschaftszweig viele technologische Fortschritte ermöglicht. Wie kann das sein?

Eine Maschine, die auf quantenmechanischen Erkenntnissen basiert.
Der erste schaltkreis-basierte, kommerzielle Quantencomputer der Welt von IBM. Quantenmechanische Erkenntnisse sind etwa in die Entwicklung medizinischer Technik wie der Magnetresonanz-Tomografie (MRT) und der Operations-Lasertechnik eingeflossen oder in die Navigationstechnik GPS und in die Kommunikationstechnologie. Foto: Satoshi Kawase/IBM

Ausgerechnet auf Helgoland kam es vor 100 Jahren zu einer revolutionären Entdeckung: der Quanten­mechanik. Als Anfang Juni dieses Jahres Dutzende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf die Nordseeinsel reisten, um das Jubiläum zu feiern, konnten sie sich im Grunde immer noch nicht sicher sein, wen sie dort wann treffen würden – und ob es Helgoland überhaupt gibt. Denn Gewissheiten sind in der Quantenmechanik fast so selten wie Sonnenblumen am Meeresgrund.

Laut der von Werner Heisenberg und anderen Physikern Anfang der 1920er Jahre aufgestellten Theorie können sich Teilchen gleichzeitig an mehreren Orten befinden. Und was für Teilchen gilt, hat auch im großen Maßstab Gültigkeit: Erst im Moment der Messung nimmt die Wirklichkeit Gestalt an. Seither treibt Forschende die Frage um: Was ist Realität – und wie entsteht sie?

Die Quantenphysik beschreibt das Verhalten von Teilchen – etwa Elektronen oder Photonen – mithilfe der sogenannten Wellenfunktion: einer mathematischen Formel, deren Lösung keine präzisen Werte für bestimmte Eigenschaften wie Ort oder Impuls der Teilchen ergibt, sondern nur Wahrscheinlichkeiten. Erst wenn eine Messung beziehungsweise Beobachtung erfolgt, so die Theorie, erstarrt die wabernde Wahrscheinlichkeitswolke zur konkreten Realität. Wie dieser Vorgang genau abläuft, ist bis heute strittig und zählt zu den größten wissenschaftlichen Rätseln unserer Zeit.

Quantenmechanik – Die Entschlüsselung der Welt

Wissenschaftsdoku

Samstag, 9.8. — 21.45 Uhr
bis 7.10. auf arte.tv 

Die sogenannte Kopenhagener Deutung, geprägt von ­Heisenberg und seinem dänischen Kollegen, dem Physiker Niels Bohr, ärgerte schon deren Zeitgenossen ­Albert ­Einstein. Er hielt sie für Unsinn und suchte zeitlebens nach einer Theorie, die ohne Beobachtende auskommt – eine, in der „der Mond da ist, auch wenn niemand hinsieht“, wie er einst scherzhaft sagte. Geglückt ist die Vereinigung von Quantenmechanik und ­Einsteins Relativitätstheorie bislang nicht.

Ein Foto von Quantenmechaniker Werner Heisenberg vor einer Kreidetafel.
Werner ­Heisenberg (1901– 1976) gilt als Begründer der Quantenmechanik und als einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts. Foto: Rauchwetter/picture alliance/dpa

Manche Forschende betrachten die Rolle der Beobachtung indes nicht als Problem, sondern als Wegweiser. Der österreichische Physik-Nobelpreisträger ­Anton ­Zeilinger etwa geht davon aus, dass „jedes quantenmechanische Mess­ergebnis den Schnittpunkt zweier Systeme zeigt – der beobachteten Welt und des beobachtenden Subjekts“. Wahrscheinlichkeiten sind für ­Zeilinger keine objektiv messbaren Eigenschaften, sondern Ausdruck subjektiver Erwartungen. Realität entstehe dort, wo Erwartungen auf Resonanz stoßen.

Was Heisenberg einst auf Helgoland in seine Notizbücher schrieb und woraus sich seither eine radikal neue Weltsicht entwickelt hat, in der nicht alles so sein muss, wie es scheint, ist längst nicht mehr nur beliebter Gegenstand wissenschafts­philosophischer Diskurse. Das zeigt die Dokumentation „Quantenmechanik – Die Entschlüsselung der Welt“, die ARTE im August ausstrahlt. Quantenmechanische Erkenntnisse sind etwa in die Entwicklung medizinischer Technik wie der Magnetresonanz-Tomografie (MRT) und der Operations-Lasertechnik eingeflossen oder in die Navigationstechnik GPS und in die Kommunikationstechnologie. Jüngstes Beispiel: 2026 soll der von der European Space Agency (Esa) entwickelte Satellit Eagle-1 im Orbit von der Erde losgeschickte Photonen empfangen und als Laserstrahl zurücksenden. Die Photonen transportieren Informationen und machen die Übertragung mithilfe quantenmechanischer Eigenschaften abhörsicher.

Auf dem Weg zum Quanteninternet

Die von Eagle-1 genutzte Quantenkommunikation fußt auf Prinzipien wie dem sogenannten No-Cloning-Theorem. Das besagt, dass es technisch unmöglich ist, einen unbekannten Quantenzustand exakt zu kopieren. Jeder Versuch der Vervielfältigung, jeder Eingriff von außen verändert den ursprünglichen Zustand – und vereitelt dadurch prinzipiell das Abhören. Der wichtigste Anwendungsbereich ist die Quantenkryptografie, also die abhörsichere Verteilung von Schlüsseln mithilfe einzelner Photonen.

„Es wird nicht mehr lang dauern, bis Quantenkommunikation weltweit genutzt wird“, prognostiziert Zeilinger. Damit ist allerdings nicht nur die sichere Datenübertragung gemeint. Denn die Technik umfasst viel mehr: Schon heute wird an Quantennetzwerken gearbeitet, die Teilchenzustände direkt übertragen – eine Art Teleportation von Information. Langfristig könne daraus ein Quanteninternet entstehen, meint Zeilinger, das nicht nur sicherer, sondern „strukturell anders ist als alles, was digitale Systeme bisher ermöglicht haben“.

Derweil bleibt auch 100 Jahre nach Heisenbergs Heurekamoment auf Helgoland weitgehend unklar, was genau in der Welt der winzigen Elementarteilchen geschieht, wenn sie niemand beobachtet.

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