Das Ziel: Nachhaltig, modern, unabhängig

Der Green Deal der EU soll Europa im wahrsten Sinne nachhaltig verändern. Kann der ­Energie- und Klimaplan halten, was er verspricht?

Mädchen mit Blumen
ARTE zeigt seit 30 Jahren, was Europa bewegt. Aktuell steckt der Kontinent in einer Zeitenwende. Wohin geht die Reise? Foto: Wes Hicks / Unsplash

Für die Europäische Union war es eine ganz besondere Unabhängigkeitserklärung: Beim Sondergipfel der EU-Staaten im französischen Versailles zum russischen Überfall auf die Ukraine beschlossen die 27 Staaten am 11. März, ihre Importe von fossiler Energie aus dem Osten drastisch einzuschränken. „Wir werden einen Vorschlag vorlegen, um unsere Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle bis 2027 abzubauen“, versprach EU-Kommissionspräsidentin ­Ursula von der ­Leyen. Und ihr Vize Frans ­Timmermans betonte, die Umsetzung des sogenannten Green Deal mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien sei „noch dringender geworden“.

Dieser Klima- und Energieplan ist damit nicht mehr nur relevant für Umwelt und Wirtschaft, sondern auch für die strategische Sicherheit. „Wir können einfach nicht von einem Lieferanten abhängen, der uns bedroht“, sagte von der ­Leyen. Für die EU ist der Green Deal die praktische Umsetzung eines großen Ziels, das Parlament und Europäischer Rat beschlossen haben: bis 2050 Europas Wirtschaft mit 445 Millionen Menschen auf Null-­Emission von Treibhausgasen auszurichten. Die grüne Transformation der 27 EU-Staaten soll ohnehin mehr leisten, als nur die Klimakrise zu bekämpfen. Der Green Deal – nicht umsonst nach dem New Deal benannt, mit dem in den 1930er Jahren US-Präsident ­Franklin D. ­Roosevelt die Weltwirtschaftskrise bekämpfte – soll das Wirtschaftswachstum ankurbeln, Europa modernisieren, mehr soziale Gerechtigkeit bringen und Europa als Vorreiter in der internationalen Klimapolitik verankern – und nun auch noch Russland das Geld für seinen Krieg in der Ukraine entziehen.

„Es wird verdammt hart, das umzusetzen“, betonte Frans ­Timmermans im Sommer 2021, als die Kommission ihren Fahrplan zu dem Thema vorstellte. Das sehen auch die deutschen Umweltverbände so: Das Paket „Fit for 55“ zur Umsetzung des Green Deal sei zwar ein „großer Fortschritt“, aber „bisher nicht dazu geeignet, die EU auf einen Pfad im Einklang mit dem 1,5-Grad-Limit zu bringen“, heißt es in einer Stellungnahme von Mitte März. Es müsse dringend nachgebessert werden, so die Forderung. Dabei ist das Paket, verglichen mit früheren EU-Vorhaben, durchaus ehrgeizig. Es enthält etwa ein Dutzend Gesetze, Verordnungen und Richtlinien zum Thema Emissionen, eine Mischung aus bewährten und neuen Konzepten.

So will die Kommission den EU-Emissionshandel (ETS) verschärfen. Mit diesem zentralen Instrument der EU-Klimapolitik werden die CO₂-Emissionen aus etwa 11.000 Kraftwerken und Industrie über ein Zertifikate-­System gedeckelt und jedes Jahr gesenkt. Während die EU seit 1990 ihre CO₂-Emissionen um etwa 24 Prozent verringert hat, fielen sie im ETS fast doppelt so schnell, um ganze 43 Prozent. Das Tempo soll noch einmal verdoppelt werden, endlich sollen auch Schiffe und Flugzeu­e für ihr CO₂ zahlen. Mit dem ETS sind Treibhausgase zum Kostenfaktor geworden: Der deutsche Chemiekonzern BASF etwa hat seit 1990 seine weltweiten Emissionen praktisch halbiert.

Oberste Priorität: Energiesparen

Neu ist der sogenannte kleine Emissionshandel: Bei ihm wird auch das CO₂ aus Heizungen und aus Benzin und Diesel mit ETS-Abgaben belegt. Das fiel bislang unter die Hoheit der Mitgliedsstaaten, hat aber nur bedingt funktioniert. Deutschland hat diesen CO₂-Preis mit zuerst 25 Euro pro Tonne CO₂ seit 2021 eingeführt; andere Länder wie Frankreich fürchten hingegen Proteste der Bevölkerung. Immerhin sollen die Staaten von den europaweit daraus erwarteten 40 Milliarden Euro Einnahmen zehn Milliarden an betroffene Regionen und arme Haushalte auszahlen.

Auch beim Energiesparen will der Green Deal die Ziele deutlich verschärfen: Statt bisher um 0,8 Prozent pro Jahr sollen die Länder ab 2024 jedes Jahr 1,5 Prozent weniger Energie verbrauchen. Das Potenzial ist riesig, zeigt eine Studie der Internationalen Energie­agentur IEA: Mit mehr grünen Energien sowie um ein Grad reduzierter Heizung in Gebäuden, besseren Sanierungen und elektrischen Wärmepumpen statt ­Gasheizungen könnte die EU in nur einem Jahr ein Drittel des russischen Gases einsparen. Mit einer „Renovierungs­welle“ will Frans ­Timmermans den Gebäudesektor, der immerhin 36 Prozent der CO₂-Emissionen verursacht, auf grün trimmen. Italien macht es vor: Wer dort sein Haus energetisch saniert, soll den Betrag zu 110 Prozent von der Steuer absetzen können. Selbst der Verkehr soll endlich zum Klimaschutz beitragen – was er bisher praktisch nicht getan hat. Neue CO₂-Grenzwerte für Verbrennungsmotoren werden so scharf formuliert, dass ab 2035 nur noch Elektro­autos neu auf die Straße gebracht werden können. Dafür hat etwa Frankreich neben innerstädtischen Fahrverboten für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren auch ein generelles System von ­Prämien- und Strafzahlungen für E-Autos und Verbrenner eingeführt.

Der Green Deal hängt am Zubau der erneuerbaren Energien. Die sollen bis 2030 insgesamt 40 Prozent aller Energie in der EU stellen. Wie gut ein Land sich auf die Erneuerbaren einstellen kann, zeigt Dänemark: Das Land hat bereits etwa 60 Prozent Windstrom im Netz und kommt mit der Nutzung von Abfall und Biomasse auf mehr als 80 Prozent CO₂-armen Strom. Eine neue Waldstrategie soll dafür sorgen, dass Bäume in der EU mehr CO₂ speichern als bislang. Das heißt nicht nur Aufforstung, sondern auch eine ökologischere Forst- und Landwirtschaftspolitik – die allerdings die EU-Agrarpolitik noch kaum erreicht hat. Städte wie Helsinki wollen ihre Energie bald ausschließlich grün und erneuerbar beziehen. Schließlich will die EU ihre Indus-trie auch vor Dumping-­Konkurrenz schützen, wenn sie zu Hause durch Öko-Maßnahmen belastet wird. Ein CO₂-Zoll auf Produkte mit großem CO₂-Fußabdruck („Carbon Border Adjustment Mechanism“, CBAM) soll dafür sorgen, dass europäische Unternehmen in ihren Öko-Anstrengungen geschützt werden. Der Mechanismus ist allerdings umstritten: Exportnationen wie Deutschland fürchten als Vergeltung Handelskriege etwa mit China.

Bei allem Fortschritt hat der Green Deal allerhand EU-typische Probleme: Sein Energiesystem kann jedes EU-Land national selbst bestimmen, daher gehen die Interessen zwischen Atomkraft (Frankreich), Kohleförderung (Osteuropa), Biomasse (Skandinavien) und Erneuerbaren (Deutschland) bisweilen auseinander. Der Streit um die Einstufung von Atomkraft und Gas als „nachhaltig“ im Sinne der EU-Taxonomie, die den Finanzmärkten Hinweise auf grünes Investment geben soll, zeigt das Problem. Und auch die EU-Front gegen Russland könnte bröckeln. Immerhin setzten Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Bulgarien und Finnland auf Atomanlagen russischer Bauart. Bei Wartung und Ersatzteilen hängen in manchen Ländern die Hälfte der CO₂-armen Stromversorgung – und damit auch die ehrgeizigen Klimaziele der EU – an der Kooperation Russlands.