Die Suche nach der Superkoralle

Weil der Klimawandel die Riff-Kolonien in ihrer Existenz bedroht, versuchen sich Forscher weltweit an einem neuen Ansatz: der assistierten Evolution. Das Ziel ist die Aufzucht von besonders hitze- und stressresistenten Korallen. Es ist ein Kampf gegen die Zeit – mit ungewissem Ausgang.

Winzige Polypenwesen mit Riesennutzen: Ein Viertel der Meerestiere lebt in Korallenriffen Foto: donbrownphoto.com

Korallen, um gleich ein Missverständnis auszuräumen, sind Tiere. Keine Zwischenwesen, keine Steine, keine Pflanzen. Sie sehen mit ihren psychedelisch wabernden Formen und Farben nur aus wie wundersame Wassergewächse. Ins Tierreich kategorisiert hat sie der französische Biologie-Pionier Jean-­Baptiste de ­Lamarck Ende des 18. Jahrhunderts. „Man hatte von ihnen erfahren, wie eine Welt entsteht, und begann zu vermuten, dass nicht allein die Erde das Tier hervorbringt, sondern dass auch das Tier die Erde erzeugt“, schrieb Lamarcks Landsmann ­Jules ­Michelet ein paar Jahrzehnte später. Poetisch versiert pries der Historiker die Nesseltiere in seinem Buch „Das Meer“ als „Günstlinge Gottes“ – und als „Weltenmacher“. Das ist insofern zutreffend, als dass die wirbellosen Winzlinge in farbenprächtiger Symbiose mit einzelligen Mikroalgen leben, den Zooxanthellen. Und noch viel mehr: Ihre Kalkskelette erschaffen tatsächlich Landmassen im Meer. Die größte aus Korallenbänken entstandene Insel liegt im Zentralpazifik, rund 2.000 Kilometer südlich von Hawaii. Sie heißt Kiritimati, was Weihnachten bedeutet. Dass Wissenschaftler auf der ganzen Welt inzwischen Hoffnungen mit dem 390 Quadratkilometer großen Atoll verbinden, liegt jedoch nicht an der christlichen Botschaft. Im Gegenteil: Hier geht es darum, dass der Mensch die Evolution beschleunigt. Und zwar möglichst schnell. Denn Korallen sind in ihrer Existenz bedroht. Sterben sie, stirbt die Artenvielfalt – und den Ozeanen droht der Kollaps.

Das über und unter Wasser paradiesisch anmutende Eiland Kiritimati, das die Briten und die USA ab den 1950ern für insgesamt 33 Atombomben-­Tests missbraucht haben, soll sogenannte Super­korallen beheimaten. Gemeint sind besonders hitzeresistente Arten, die imstande sind, dem durch den Klimawandel verursachten Temperaturanstieg zu trotzen. „Ich nenne sie scherzhaft ,wiederauferstandene Korallen‘“, sagt die Meeresbiologin ­Julia Baum in der Dokumentation, die ARTE im Schwerpunkt „­Winter of ­Oceans“ im Januar zeigt. Die Kanadierin taucht seit einer Dekade an den Kiritimati-Riffen und hat die Verwüstungen mehrerer Korallenbleichen analysiert. Dabei stieß sie auf überraschende Überlebensstrategien der Nesseltiere. Was sie herausfand, ermutigt Wissenschaftler, nach besonders anpassungsfähigen Korallen zu suchen. „Wir müssen jetzt aufwachen und diese Ökosysteme retten“, unterstreicht Baum. Andernfalls, so die dramatische Prognose, drohe die Ausrottung von Korallen innerhalb weniger Jahrzehnte.

Temperaturhöhepunkte, wie sie das Wetterphänomen El Niño alle paar Jahre hervorruft, verstärkten sich durch den Klimawandel so sehr, warnt Baum, dass viele Korallenriffe regelrecht „frittiert“ zurückblieben. So geschehen in Kiritimati: Als die Wassertemperatur dort in den Jahren 2014 bis 2016 für längere Zeit um bis zu 2,5 Grad anstieg, habe die Unterwasserwelt „einem Friedhof“ geglichen, berichtet die Wissenschaftlerin der University of Victoria. Dort, wo ansonsten putzig gestreifte Clownfische und Tausende andere Arten zwischen buntscheckigen Polypen schwimmen, sah sie nur noch abgestorbene, weiße Kalkskelette in leblos trübem Wasser. Auch das australische Great Barrier Reef und fast alle anderen großen Riffgebiete der Erde litten in den vergangenen Jahren mehrfach unter massiven Korallenbleichen.

Die Rettung der Korallen

Wissenschaftsdoku

Samstag, 16.1. – 22.00 Uhr
bis 16.3. in der Mediathek

Koralle
Keine Pflanzen, keine Steine – Korallen sind wirbellose Tiere und leben in Symbiose mit Mikroalgen Foto: Beth Watson_Coral Reef Image Bank

„Weggehen, anpassen – oder sterben“
„Für die Tiere gibt es drei Optionen: Sie können weggehen, sich anpassen – oder sterben“, sagt Ruth ­Gates in der ARTE-Doku. Als Direktorin des Hawaii Institute of Marine Biology der University of Hawaii etablierte die Unterwasser-­Koryphäe einen revolutionären Forschungsansatz: die assistierte Evolution. Ziel ist, lokal angepasste Superkorallen zu züchten, um sie dort anzusiedeln, wo der Klimawandel die Wassertemperaturen gefährlich ansteigen lässt. Manchen Wissenschaftlern geht das zu weit – einige bezeichneten die Beeinflussung der Riffe sogar als „Monsanto der Korallen“. „Der Lebensraum der Korallen verändert sich gerade so schnell, dass sie nicht genug Zeit haben, sich anzupassen. Deshalb müssen wir nachhelfen“, hielt ­Gates dagegen. Auch nach dem plötzlichen Tod der Meeresbiologin arbeitet man in Hawaii, wie die ARTE-Doku zeigt, hartnäckig an der Aufzucht und Auswilderung von stressresistenten Korallen. „Echte Superathleten“, wie ­Gates sie nannte.

So ambitioniert die Rettungsversuche sind, die mittlerweile in ähnlicher Form auch in anderen Laboren in den USA und Australien laufen – ob sie es schaffen, natürlich entstandene Riffe vor den Folgen des Klimawandels zu schützen, kann niemand sagen. Sicher ist nur: Man bräuchte gewaltige Mengen an gezüchteten Superkorallen, um wildgewachsene Artgenossen zu ersetzen. Weltweit bedecken ihre Kolonien eine Fläche von rund 600.000 Quadratkilometern. Gut ein Viertel aller Unterwassertiere ist von ihnen unmittelbar abhängig, zudem schätzungsweise eine halbe Milliarde Menschen, die in Riffnähe leben und dort auf eine intakte Flora und Fauna angewiesen sind.

Unglaublich diverses Ökosystem
Jules Michelet schrieb in „Das Meer“ noch von einer „vollständig harmonischen Welt, die nichts weiter bedarf“. 150 industrialisierte Jahre später ist der weltweite Zustand der marinen Ökosysteme „ernüchternd“, wie Sebastian Ferse vom Leibniz-­Zentrum für Marine Tropenforschung in Bremen konstatiert. „Meine Forschergeneration verwaltet und dokumentiert gerade den Niedergang“, sagt der Riff-Experte. Vor diesem Hintergrund seien Ansätze wie Ruth ­Gates’ assistierte Evolution wichtige Impulse, die hoffen lassen. „Wir dürfen nur nicht die gleichen Fehler machen wie an Land. Ein Riff ist ein unglaublich diverses Ökosystem, künstliche Monokulturen wären auch hier verheerend“, so ­Ferse. Versuche hätten gezeigt, dass Riffrestaurationen nur gelingen können, wenn man die natürlichen Interaktionen von verschiedenen Korallenarten ausnutzt. Gut 1.600 Arten der riffbildenden Steinkorallen seien bekannt. „Wir sollten nicht auf die eine Superkoralle hoffen“, sagt ­Ferse und betont: „Für langfristigen Erfolg müssten wir eine Vielzahl von hitzeresistenten Superkorallen züchten und es schaffen, sie so auszusiedeln, dass sie sich in Polykulturen gegenseitig unterstützen.“

Koordiniertes Massenlaichen
Dass die Forschung zu Wasser der Forschung an Land teils um viele Jahre, mitunter Jahrhunderte, hinterherhinkt, offenbart sich im Fall der Nesseltiere besonders deutlich. „Wir wissen zum Beispiel erst seit Anfang der 1980er vom Phänomen des Massenlaichens, dass also ein Korallenriff innerhalb kürzester Zeit koordiniert Milliarden von Ei- und Spermienbündel zur Fortpflanzung abgibt“, sagt Ferse und erklärt: Man habe unter Wasser eben lange nicht so genau hingesehen. Besonders wichtig sei daher heute die internationale Vernetzung von Forschern, wie es etwa das Projekt „Future Earth Coasts“ versucht. Die Plattform helfe, Politiker wachzurütteln und einzubinden, um neueste wissenschaftliche Erkenntnisse schnell in konkrete Hilfen für die Ozeane umzumünzen. „Seit die Korallenbleichen das Great Barrier Reef stark betreffen, steigt endlich das Bewusstsein für das Problem. Auch der gut organisierte Öko-Aktivismus jüngerer Generationen – siehe ,Fridays for Future‘ – macht mir Hoffnung“, sagt Ferse. Menschen, die in die Welt der Korallen eingetaucht sind und ihr in Tausenden von Jahren erschaffenes Paralleluniversum erlebt haben, reagieren meist ehrfürchtig auf das komplexe Zusammenspiel im Meer. Ob Seepferdchen oder Alge, Krebs oder Hai – ein Riff und seine Bewohner lassen einen spüren, wie alles mit allem verbunden ist. Den gläubigen Historiker ­Michelet veranlasste das, aus dem Blickwinkel der heute so bedrohten Polypenwesen zu sinnieren: „Ist das pflanzliche Leben nicht im Grunde ein Vermächtnis, eine Gabe, ein Almosen unserer Freigebigkeit? Reich an uns Korallen, nährt es die höhere Schöpfung.“ Sie zu zerstören, bedeutete in seinen Augen, den „Kreis Gottes“ zu durchbrechen. „Er krönte mit uns seine Insel. Auf seinem alten Feuervulkan erschuf er einen Vulkan des Lebens – ja vielmehr noch: die Pracht eines lebendigen Paradieses.“

Auch für Korallen sind Monokulturen verheerend

Sebastian Ferse, Riff-Experte am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung