Spuren aus der Eiszeit

Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass Menschen viel früher nach Amerika kamen als bislang gedacht. Unklar ist jedoch, auf welchem Weg sie den Kontinent erreichten.

Schneebedeckte Berge
Foto: Getty Images

Seit vor zwei Jahren in der Wüste von White Sands im US-Bundesstaat New Mexico Fußspuren urzeitlicher Menschen datiert wurden, gibt es heftige Debatten unter Fachleuten. Der Grund: Die versteinerten Abdrücke sollen laut deren Entdeckern älter als 20.000 Jahre sein. Träfe das zu, müsste die Geschichte der Besiedelung Amerikas umgeschrieben werden.

Bislang galt als gesichert, dass Menschen frühestens vor 13.000 Jahren aus Sibirien über die Landbrücke Beringia nach Nordamerika eingewandert waren. Dort ließen sie sich zunächst im Gebiet des heutigen Alaskas nieder, da der Weg nach Süden durch einen rund 3.000 Meter hohen ­glazialen Eisschild versperrt war. Erst als die Gletscher tauten, ab etwa 11 000 v. Chr., bildete sich ein Korridor, durch den die prähistorischen Stämme weiterziehen konnten. Hinterlassenschaften dieser sogenannten Clovis-Kultur, wie Forschende die Einwanderer nach einem wichtigen Fundort in New Mexico bezeichnen, wurden erstmals 1937 entdeckt: aus Tierknochen gefertigte Speerspitzen und andere für Jäger und Sammler typische Werkzeuge.

Die meisten indigenen Gemeinschaften im heutigen Nordamerika berufen sich in ihren mündlichen Überlieferungen auf eine Abstammung von der Clovis-Kultur. Sie müssen ihre Legenden wohl überarbeiten: „Spätestens seit den Ausgrabungen von White Sands ist klar, dass die Menschen viel früher nach Amerika kamen als gedacht“, sagt die Paläontologin ­Roseanne ­Chambers. „Es gab sogar mehrere Prä-Clovis-­Kulturen auf dem Kontinent, bis hinunter zur Südspitze“, so ­Chambers im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Dafür sprechen etliche Funde in Mexiko, Brasilien und Chile, deren Alter mit bis zu 30.000 Jahren datiert wird.

Schon Ende der 1970er Jahre hatte der kanadische Archäologe ­Jacques Cinq-Mars Indizien dafür gefunden, dass Menschen 24.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung in Amerika lebten. Die Ergebnisse seiner Grabungen in der Blue-Fish-Höhle im Yukon-Territorium wurden allerdings nicht anerkannt – auch weil sie der gängigen Lehre widersprachen. „Seinerzeit galt es als undenkbar“, sagt ­Chambers, „dass prähistorische Menschen den Eisschild überqueren konnten. Die Clovis-­Theorie war quasi unumstößlich.“

Das könnte sich nun ändern. „Ein Paradigmenwechsel ist überfällig“, sagt ­Ciprian ­Ardelean, Archäologe an der Universität Zacateca. Sein Team hatte 2019 in der mexikanischen Chiquihuite-­Höhle Hinweise auf menschliche Aktivitäten vor 30.000 Jahren gefunden – und sich damit erst mal unbeliebt gemacht: „Als wir die Ergebnisse publizierten, stellten etliche Kolleginnen und Kollegen unsere Forschungen infrage“, berichtet ­Ardelean in der Doku „Das Rätsel von White Sands“, die ARTE im Juni ausstrahlt. Seine Steinfunde „deuteten auf geologische Phänomene, nicht auf menschliche Bearbeitung hin“, erinnert sich der Wissenschaftler an die Begründung der Kritik. Bis heute liegt er mit einigen Forschenden deswegen im Clinch.

Das Rätsel von White Sands

Wissenschaftsdoku

Samstag 17.6. — 21.45 Uhr
bis 15.8. in der Mediathek

Fußspuren
Foto: Courtesy of the National Park Service

SEETANG-ROUTE ÜBER DEN PAZIFIK

Auch die Ergebnisse des Teams um Matthew Bennett, Geologe an der Bournemouth University, und David ­Bustos, Ausgrabungschef im White-Sands-Nationalpark, das die dortigen Fußabdrücke untersuchte, wurden angezweifelt. Dass die Spuren in White Sands von Menschen stammen, ist zwar offensichtlich, aber die Radiokarbonmethode, mit der ihr Alter auf 21.000 bis 27.000 Jahre datiert wurde, hat eine Schwachstelle, den sogenannten Freshwater Reservoir Effect: Versteinerte Samen von Wasserpflanzen, die als Material für die Datierung verwendet werden – wie in White Sands –, enthalten bisweilen Kohlenstoff, der älter ist als die Spuren selbst. Das könnte die Datierung verfälschen. Kritiker der White-Sands-­Untersuchung wie der Archäologe ­Loren ­Davis von der Oregon State University in Corvallis fordern daher eine Altersbestimmung mit einer alternativen Methode.

Falls die Ergebnisse bestätigt werden, stehen die Forschenden vor der nächsten Frage: Wie erreichten die Menschen den Rest des Kontinents, wenn die Landroute aus Alaska während der Eiszeit unpassierbar war? Einige gehen inzwischen davon aus, dass die Besiedelung nicht auf dem Landweg, sondern übers Meer geschah, auf dem sogenannten Kelp Highway, der Seetang-Route. „Vor 25.000 Jahren boten die Gewässer entlang der amerikanischen Westküste Nahrung im Überfluss“, sagt ­Roseanne ­Chambers. „Gut möglich, dass die Menschen in Booten aus Asien nach Amerika fuhren, um dort neues Land zu besiedeln, als es ihnen zu Hause zu eng wurde.“

Es gab voreiszeitliche Kulturen bis hinunter zur Südspitze Amerikas

Roseanne Chambers, Paläontologin